„Die grässliche Bescherung in der Via Merulana“: Ernst jetzt, das soll ein Krimi sein?

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Der Roman von Carlo Emilio Gadda ist ein Wunderwerk von Buch.

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Der Roman von Carlo Emilio Gadda ist ein Wunderwerk von Buch.

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Es handelt sich nicht um den ersten Versuch, Carlo Emilio Gadda (1893–1973) der deutschsprachigen Öffentlichkeit vorzustellen. Diesmal kommt ein aktueller Anlass dazu, denn sein Todestag jährte sich am Sonntag zum fünfzigsten Mal.

Doch eigentlich sollte man niemals nachlassen, auf diesen besonderen Schriftsteller hinzuweisen. Als der Roman „Die grässliche Bescherung in der Via Merulana“ 1957 erschien, war Gadda bereits 64 Jahre alt und vom Erfolg etwas überfordert. Geschrieben hatte er, der zeitweise sein Leben als Ingenieur bestritt, schon sein ganzes Leben lang, doch plötzlich hatte er einen Bestseller gelandet, der noch dazu von der ernsthaften Kritik gefeiert wurde. Die Italiener können das, man denke nur an Umberto Eco. Die Krimihandlung, die sich leicht nachvollziehen lässt, bildet nur den Köder für ein wesentlich anspruchsvolleres Unterfangen. Die ganze Gesellschaft sollte in den Blick genommen werden, vergleichbar dem Bemühen Heimito von Doderers, nichts Geringeres als den „totalen Roman“ zu schreiben.

Gadda ist nicht der Mann, der uns mit Lösungen abfertigen würde. Ein Kriminalfall bietet ihm Anlass, die unterschiedlichsten Charaktere aus verschiedenen Milieus vorzustellen, die sich in Verhören deklarieren müssen. Für den Ermittler stiften sie nur Verwirrung. Sich ein klares Bild über die Ereignisse zu machen, erscheint ihm zunehmend unmöglich. Statt der klassischen Fall-Geschichte, die einer Lösung zustrebt, hat Gadda anderes im Sinn. Im Jahr 1927, in dem die Handlung abläuft, ist Italien faschistisch, was einen besonderen Menschenschlag hervorbringt. Den Einzelnen nähert sich Gadda über deren sprachliche Eigenarten an, deren Jargon und eigenen Wortfärbungen. Das muss eine Übersetzerin erst einmal hinkriegen, was Toni Kienlechner zu kühnen Sprachschöpfungen herausgefordert hat. Einmal erwähnt sie die „feiste Abendschoppensorglosigkeit eines Handlungsreisenden“, an anderer Stelle ist das Haar einer Frau hart geworden von „staubgestocktem Fett“.

Auf eine solide Handlung verzichtet Gadda, das würde nicht zum Konzept des Romans passen, der sich so umtriebig durch verschiedene Lebenswelten treiben lässt. Das Fragment ist die angemessene Form, um der Vielfalt heterogener Interessen einer Gesellschaft gerecht zu werden. Dazu kommt eine Sprunghaftigkeit der Erzählhaltung, die sich auf handelsüblichen Realismus ebenso einlassen darf – kurzfristig jedenfalls – wie auf Satire und Reflexion.

Ein Wunderwerk von Buch!

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