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Digital In Arbeit

Die paar glücklichen Tage

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Stumpnagel hatte in der Buchhaltungsabteilung die Maschinen und Instrumente nach ihrer jeweiligen örtlichen Placierung evident zu führen. Eine unbedeutende Tätigkeit. Es stand jetzt schon fest, daß nach ihm die Stelle nicht mehr besetzt werden würde. Diese Arbeit konnte ein anderer Angestellter mitnehmen. Im Rahmen seiner unscheinbaren Beschäftigung war auch sein Äußeres unscheinbar geworden, und man wußte nicht, ob sein Rücken von Geburt oder infolge seines Berufes gekrümmt war. Es war stets, als ob er sich vor etwas oder jemandem ducken wollte. Für ihn gab es keinen Platz an der Sonne, sein Tisch stand in einer Ecke, und niemand wußte heute mehr, warum er einstmals durch eine Wand aus Milchglas vom übrigen Raum abgetrennt worden war.

Stumpnagel hatte niemandem gesagt, was ihm der Arzt anvertraut hatte, zwar schonend, tröstend, aber doch deutlich. Er vermied es nicht nur aus Bescheidenheit, über sich zu reden, sondern auch aus Angst, sich lächerlich zu machen. Von da an war er noch mehr in sich gekehrt, sein Gesicht wurde noch grauer.

Aber irgendwie war es doch durchgesickert, Stumpnagel würde nicht mehr lange unter ihnen weilen. — Nun begann ein seltsames Rücksichtnehmen. Man war freundlich zu ihm, jeder suchte ihm zu helfen, er fühlte Wohlwollen um sich. Wenn einmal jemand versehentlich laut lachte, verwiesen es ihm die anderen durch einen Blick in der Richtung auf Stumpnagel. Um ihn wurde es auf einmal warm und sonnig. Einer trat ihm seinen Fensterplatz ab, und als er ablehnte, zogen sie ihn mit Gewalt hin. Allmählich vergaß er den bitteren Kern und sah nur die vergoldete Schale seines neuen Daseins.

Einmal, als Stumpnagel über seinen Rubriken saß und einen Eintragungsfehler suchte, war die blonde Georgette, Erstpreisträgerin im neulich stattgehabten Wettbewerb für moderne Tanzkunst, allein Zurückgeblieben. Sie setzte sich zu ihm und begann etwas zu reden, dann schien ihr plötzlich die Stimme zu versagen und sie sprang auf und eilte davon. Das war der Gipfelpunkt von Stump-nagels Höhenwanderung.

An den folgenden Tagen kam Stumpnagel nicht ins Büro. Das ärztliche Zeugnis sprach zwar nur von einer schweren katarrhalischen Erkrankung, die Kollegen aber wußten es besser. Lylo von der Korrespondenz erklärte, daß sie ihr schwarzes Kleid modernisieren lassen müsset .worauf die anderen meinten, daß

man bei diesem Anlaß Dunkel, aber nicht ausgesprochen Schwarz trage. (Vielleicht besaßen sie Schwarz nicht.) Lylo aber bestand darauf, daß ihr Schwarz gut stehe, nach dem Tode ihrer Großmutter hätten es alle gesagt.

Nach zwei Wochen erschien Stumpnagel wieder im Büro. Alle fanden ihn zwar noch blaß, aber wesentlich frischer. In den nächsten Tagen besserten sich sein Befinden und sein Aussehen zusehends. Er konnte es sich selbst nicht erklären. War das damals eine Fehldiagnose des Arztes oder ein Mißverständnis seinerseits gewesen? —

Die alte Gleichgültigkeit breitete sich um ihn aus und kapselte ihn wieder ab. Er war froh, daß er widerstandslos auf seinen Platz hinter der Milchglaswand zurückkehren konnte. Nicht daß sie ihm sein unbedeutendes Leben nicht gegönnt hätten, aber sie kamen sich irgendwie genarrt vor und ließen es ihm unwillkürlich merken.

Und während sie rings um ihn wieder laut sprachen und lachten, wagte er kaum zu atmen, um niemanden an seine Existenz zu erinnern.

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