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Digital In Arbeit

Johannes

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Seinen dunklen Lockenkopf aus den Kissen des Kinderbettes hebend, wurde sich der Knabe der Tatsache bewußt, daß seine Mutter nicht daheim war. Mit Worten ist nicht zu erklären, woher er die Gewißheit dieses sicheren Wähnens schöpfte, er, dem Worte noch ein nicht zu bewältigendes Problem waren. Seinem kaum zweijährigen Dasein war die Fertigkeit des Sprechens noch nicht verliehen, ein Mangel, dessen er sich jedoch kaum bewußt wurde. Denn Johannes' Mutter, das Wesen inbegrifflichen Geborgenseins und steter Liebes- und Trostbereitschaft, verstand ihn, wie nur wahrhaft Liebende sich zu verstehen vermögen: ohne Worte, mit der Sprache des Herzens, den Gebärden der Seele.

Da Mutters Arbeitsschürze, die sie daheim stets trug, an der Türe hing, war sie also ausgegangen: denn nur dann geschah es, daß sie sich von diesem Kleidunasstück trennte, an dem Johannes mit inbrünstiger Liebe hing. Das Muster im blauen Grund zauberte ihm stets eine reiche Welt mannigfaltigster Vorstellungen herbei, deren Ursprung in der Phantasie jedes Kinderherzens schlummert. Daß ihr daneben auch ein eigener Duft anhaftete, der lockte und beruhigte zugleich, etwa nach Lebkuchen und satten dunklen Blumen, und daß sie mit Taschen versehen war, in denen sich manchmal überraschende Köstlichkeiten fanden, erhöhte nur ihren Reiz.

Die weiße Uhr an der Küchenwand schlug drei Uhr Nachmittag. Johannes war also, seinen Gepflogenheiten zum Trotz, um eine Stunde früher erwacht, als dies sonst der Fall war. Daher kam es wohl, daß die blaue Schürze an der Türe hing, die der Kleine jetzt mit nachdenklich geneigtem Haupte betrachtete; denn seine Mutter ging nur dann alleine außer Haus, wenn Johannes sich ihres Fernseins nicht bewußt werden konnte.

Er stand, einer jähen Regung folgend, auf. Aber die Gitterwände seines Bettchens umgaben ihn gleich den Wänden eines Käfigs, m dem er, freilich ohne es vorerst als unangenehm zu empfinden, gefangen war. Ir spazierte eine Weile mit seinen bloßen Füßchen auf und ab, während sein kleiner Mund eintönige Melodien fand, die an die schwermütigen Weisen östlicher Volkslieder gemahnen konnten. Dieser unbewußte „Gesang“ schien ihn selbst zu beruhigen und zu befriedigen, denn er empfand kein Bedürfnis, ihn zu beenden oder ihm eine Wendung ins lebhaftere oder tonreichere %n geben.

Die weiße Uhr im Nachbarraum schlug halb vier, als Johannes plötzlich stehenblieb. Er wollte sein Bett verlassen, was allerdings, einem sehr tiefen Ahnen zufolge, gar nicht leicht sein würde. Er machte zunächst ein paar Versuche, die_ völlig fehlschlugen und ihm die Erkenntnis einer gewissen körperlichen Ohnmacht vermittelten. Das erboste den Kleinen, und er stieß ein paar laute, zornige Schreie aus, denen er als einziger Zuhörer erstaunt nachlauschte. Dann war es wieder still; nur die Küchenuhr meldete dreiviertelvier, was Johannes freilich nicht erfaßte. Beim Versuch, die einzelnen Wände des Gitterbettes zu bewegen, geschah etwas überraschendes: der vordere Teil gab nach und ließ sich emporschieben. Johannes gab sein letztes an noch nicht zweijähriger Kraft, wobei sein kleiner Mund arg ächzte und stöhnte wegen der ungewöhnlichen Anstrengung; doch ein Gefühl stolzer Befriedigung bemächtigte sich seiner. Er tat noch einen kleinen, energischen Ruck, dann fiel er, das durchbrochene Brett in den kleinen Händen, auf den Fußboden hinaus.

Der Schrecken lähmte zunächst seine Stimme, die ein Geschrei kurzweg versagte und in keinerlei Verhältnis zu dem kleinen Schmerz stand, den er am rechten Knie verspürte. Er wischte ihn mit der Hand gleichsam weg, während er mit der anderen noch immer die selbständig gewordene Wand des Gitterbettes festhielt.

Um sich blickend, wurde er sich einer räumlichen Freiheit bewußt, die er sonst nur in Gesellschaft seiner Mutter genoß. Diese Erkenntnis löschte das Gefühl des Schreckens vollends aus und mit einer niegekannten Seligkeit erhob er sich und begann in dem Zimmer herumzugehen. Ein paarmal gelüstete es ihn, nach Gegenständen zu fassen, die verlockend nahe waren und zum Greifen einluden: ein buntes Kissen auf dem Sofa, eine Zeitung auf dem niedrigen Tischchen, eine grüne, bauchige Vase. Doch er ließ im letzten Augenblick zögernd davon ab, sein Verlangen zu stillen, als mahne ihn eine unhörbare Stimme davor.

Als es auf der Küchenuhr die vierte Nachmittagsstunde schlug, hatte Johannes ungezählte Runden durch das Zimmer hinter sich, und das Gefühl einer männlichen Leistung befriedigte ihn sehr. Er blieb stehen und schien zu überlegen.

Seine Wünsche waren nicht so ausgeprägter Natur, daß er sich ihnen hätte eindeutig und klar unterwerfen können. Die Lage, in der er sich befand, war zu überraschend und neu, die Verlockungen za mannigfaltig und die Unsicherheit in seinen Handlungen noch zu groß, als daß er sich einer bestimmten Tätigkeit hätte zuwenden mögen.

Vorerst begann Johannes wieder z singen! Dieses Geräusch aus seinem Munde — er empfand es selbst wohl nicht anders — verlieh ihm Sicherheit, weil es vertraut war, und ermutigte ihn irgendwie zu neuen Taten. Er blickte um sich. Und seine Augen bemerkten mit einem Male Dinge, die bislang nicht in sein Bewußtsein gedrungen waren.

Er sah einen braunen, glänzenden Knopf, und das Verlangen, ihn zu berühren, erfaßte ihn heftig. Seine Kinderhand legte sich um das runde Ding, das dem Druck nachgab: Johannes öffnete eine Lade. Darin lag eine Karte, die er herausnahm. Das Gefühl, nicht daran gehindert zu werden, erfüllte ihn mit namenlosem Glück, und der Zauber der persönlichen Freiheit machte sein Kinderherz gleichsam trunken. Lange und ernsthaft betrachtete er das Bild in seiner Hand, und je länger er es ansah, desto gewisser wurde er sich der Erkenntnis, daß seine Mutter ihn anlächelte. Neuerlich wurde das Kind sich ihrer Abwesenheit bewußt, und ein Blick auf die blaue Schürze an der Wand bestätigte das Erkannte. Nur war es seltsam, sie dennoch gegenwärtig zu sehen, an der Seite eines Menschen, der Johannes freilich gänzlich fremd war.

Eben als er das Bild, vor dem er die Ehrfurcht des völlig Neuen empfand, in die Lade zurücklegen wollte, hörte er das vertraute Knarren der Küchentüre, dem gleich darauf das noch vertrautere Quietschen einer. schlecht geölten Angel folgte.

Der Gedanke an die unerwartete Rückkehr seiner Mutter überwältigte den Knaben dermaßen, daß er wie angewurzelt stehenblieb. Er wartete reglos und von freudigem Schrecken erfüllt, weil er der Mutter Stimme in der Küche hörte. Sie war also nicht allein zurückgekehrt.

Johannes stand noch immer starr in der Mitte des Zimmers, als die Mutter, behutsam und leise, als wollte sie seinen vermeintlichen Schlummer nicht stören, eintrat, von einem Manne gefolgt, den Johannes nie gesehen hatte. Doch das Bild der beiden Menschen in der Türe, das seiner lächelnden Mutter und das des fremden Unbekannten, der in zärtlicher Erwartung auf den Knaben blickte, ward urplötzlich so vertraut, als hätte das Bild in Johannes Händen Leben erhalten auf zauberische Weise. Und ganz ohne Scheu tat er ein paar kleine Schritte auf den Mann neben seiner Mutter zu, dem das Glück der seit Jahren ersehnten Heimkehr nur eine wortlose Gebärde der Zärtlichkeit erlaubte.

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