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DIE RICHTERIN

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Sie hat mich verurteilt, mich gewogen und zu leicht befunden. Eine Katze, die wir aus Mitleid ins Haus genommen haben. Den ganzen Tag sehe ich meiner Richterin zu, wie sie schläft und frißt und zuweilen auf ihr Kistchen geht, und möchte mich empören, daß sie mich richten darf, der ich arbeite und mich mühe. Aber warum höre ich so aufmerksam auf ihren Wahrspruch, lausche ängstlich ihren Plädoyers, in denen sie die Verurteilung begründet?

Meine Richterin ist so groß und so vollkommen wie das Gesetz, nach dem sie richtet. Ein königliches Tier. Ich darf sie jetzt auch wieder streicheln. Dennoch bleibe ich verurteilt und erwarte mir keine Begnadigung.-

Sie ist so klein, so unscheinbar und behutsam wie eine Kranke. Aber sie ist nun nicht mehr krank, wie noch vor ein paar Tagen, da wir sie der bittersten Kälte im Freien entzogen. Wenn sie, ihr Futter heischend, an mir hinaufspringt, wird mir bewußt, daß ich nicht würdig bin, es ihr zu geben, weil sie mich verurteilt hat.

Ich könnte sie wieder dorthin zurücktragen, wo wir sie aufgelesen. Es ist jetzt draußen nicht mehr so kalt. Wer weiß, ob sie wieder jemand findet und auf nimmt und weiterfüttert. Sie würde dann schon sehen, ob es recht war, mich zu verurteilen.

Solche Gedanken kommen mir nur im Zorn. Weil ich ohnmächtig gegen sie bin. Mit dem gleichen Gefühl stand ich einst vor dem schlafenden Vater, der mich bestraft und sich dann ruhig hingelegt hatte. War er doch nun, da er ohne Bewußtsein und scheinbar hilflos vor mir lag, noch mächtiger geworden, wie mir schien, als er wachend schon gewesen.

Ich habe es mit Verachtung versucht, aber die Verachtung des Gesetzes trifft den Verächter. Und so ist meine Verurteilung unabänderlich. So unabänderlich wie meine Vergangenheit. Ich fühle jetzt sogar, daß meine Vergangenheit und meine Verurteilung eins sind.

Wenn ich von dem Papier, auf dem ich von meiner Richterin schreibe, zu ihr hinübersehe, die, ein graues Häufchen, von mir abgewendet, auf dem Teppich neben dem Ofen liegt, dann hoffe ich, ich würde lächeln müssen bei meinen hochtrabenden Worten über sie, die ganz ohne Gedanken ist und ohne Wissen von ihrem Richteramt. Und darf ich nicht auch wirklich lächeln über mein „Verbrechen“ gegen sie? Weil sie, anstatt ihr Kistchen zu benützen, zum zweiten Male schon die Zimmerecke beschmutzt, da hatte ich ihr gedroht. Nur mit Worten und vielleicht auch noch mit einer heftigeren Bewegung der Hand. Ein Hund würde es längst vergessen und verziehen haben. Aber was hat eine Katze mit einem Hund gemein? Es ist der Unterschied von Ideal und Wirklichkeit.

Und so weiß ich es nun für immer: Ich bin ein roher Mensch. Kein Einwand dagegen kann mir helfen. Die Tiere sind es, die uns prüfen, wenn dieses Leben eine Prüfung ist.

Und Tiere sind heilig. Ich habe es nie begriffen. Und begreife jetzt. Meine Richterin ist heilig. Sie ist selber das Gesetz, wonach sie richtet. Sie ist das fleischgewordene Urteil über mich, die lebendige Wahrheit, der ich nicht entkommen kann, solange sie da sein wird, solange ich mich an sie erinnern werde.

Auch, daß der Gastfreund heilig ist, begreife ich erst heute. Sie ist mein Gast — und ich bedrohte sie. Der ich Anteil an der Kultur zu haben glaubte, bin in Wahrheit ein Barbar. Ein strenges Gesetz verurteilt mich. Ich erkenne es an.

Ich gehe zu ihr hin, bücke mich und streichle sie. Sie zuckt nur mit den Ohren. Sie schnurrt nicht. Bin’s doch nur ich, der nicht Ernst zu Nehmende, der Verurteilte.

Was kann ich noch tun?

Ich habe einen Menschen vor langer Zeit an meinen Tisch geladen. Täglich ist er nun seitdem mein Gast. Doch er wird oft von mir beleidigt, obgleich, nein — schlimmer — weil er meine Suppe mit mir teilt.

Dank, Richterin! Ich will ihn versöhnen, will ihn wärmen mit allen Feuern meiner Gastlichkeit

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