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Wohmanns Handicap

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Die Großkritikerin der Beziehungen hat wieder zugeschlagen.

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Die Großkritikerin der Beziehungen hat wieder zugeschlagen.

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Wahrscheinlich weiß die 1932 in Darmstadt geborene Tochter eines Theologen, Gabriele Wohmann, selber nicht, wieviele Geschichten, Romane, Hör-und Fernsehspiele, aber auch Gedichte, sie seit 40 Jahren geschrieben hat. Daneben brachte sie, früh verheiratet, drei Kinder zur Welt und fungiert als Großkritikerin zwischenmenschlicher Beziehungen, zumal der ehelichen. Unermüdlich verrät sie das Alltäglichwerden des Alltags, und ebenso unermüdlich wird ihre Prosa über (das heißt: gegen) alles Prosaische des menschlichen Nebeneinanders gelesen. Sie will „allergisch machen" gegen die grassierende Unvorsichtigkeit, mit der familiäre Unbill „blindlings" hingenommen wird. Damit sind wir beim Thema. Vertrauen als I Iancicap ...

„Das Handicap" heißt ihr neuester Boman, denn so nennen auch die betroffene Sue, ihr Ehemann Ed, die jüngere Schwester Marnie und alle anderen Familienangehörigen mit gehörig sanfter Umschreibung, was der 44jährigen zugestoßen ist. Sie ist im jüngst bezogenen, gemütlichen Eigenheim, einem umgebauten Bauernhaus, auf der Stiege ausgerutscht, über ein paar Stufen hinuntergestürzt, hat sich nicht einmal weh getan, nur: durch den Schock ist sie seit' her so gut wie erblindet.

Ärztliche Behandlung, Augentropfen, Tabletten, halfen bislang wenig oder nicht. Sue will nicht bedauert werden, und die Umgebung hält sich derart einsichtig an dieses Gebot, daß die Kranke - bedauerlicherweise - bei jedem wohlüberlegten Wort spürt, wie sehr man besorgt ist, sich die Sorge nicht anmerken zu lassen, die man sich um sie macht. Der berufstätige Gatte ist stets bedacht, ihre Lieblingsspeisen zu kochen, die Kranke muß in ihren natürlich angekränkelten Gedankengängen zugeben, daß er sich als idealer Gatte aufführt, was - bei Gabriele Wohmann selbstverständlich - zur unausgesprochenen Selbstbefragung führt, ob er es wirklich ist, oder ob er ihn aus Pflichtgefühl mimt.

Er war schon einmal verheiratet, mit einer Frau, die aus ihrer früheren Ehe eine kleine, inzwischen erwachsene Tochter mitbrachte, Prentice. Die hält sich angeblich in Holland auf, will zu Besuch kommen oder ist sie im geheimen schon da? Nichts als krankhaftes Mißtrauen, weil Sue auf die Stieftochter ihres Mannes eifersüchtig wurde, obwohl sie weiß, keinen Grund zu haben — nach 19 soliden Ehejahren.

Gabriele Wohmanns Vater las Joyce, und das merkt man ihr an - keineswegs der Diktion (die ist völlig eigenständig), aber der Perspektive. Was ihr Romanpersonal aussagt, ist nicht so wichtig, es geht darum, was den Figuren unwillkürlich und unausgesprochen durch den Kopf geht.

Immerhin: Die Autorin hat ihren bedingungslos spöttelnden Pessimismus gemildert und gibt zu, daß es auch - mit einiger, nicht immer geringer Mühe bei manchen zu guten Regungen kommt. Zu denen gehört nicht die sogenannte „Mutter" - so wird die zweite Frau des Vaters betitelt. Die wohnt zum Glück weit weg, führt aber täglich end- und inhaltslose Ferngespräche und schickt Ton-bandbriefe. Analysiert und dabei hämisch durchschaut wird von Gabriele Wohmann vor allem das Innenleben der weiblichen Gestalten. Die männlichen sind in der Sicht der Frauen, von außen her, gezeichnet. Der Roman „geht gut aus", soweit das bei der Wohmann möglich ist. Ein zweiter Schock könnte helfen, haben die Ärzte als Hoffnung vorhergesagt. Der begibt sich tatsächlich: Sue glaubt (und daraufkommt es an), den stocktreuen Ed in einer erotisch zwielichtigen Situation ertappt zu haben. Gabriele Wohmann läßt uns aber (samt unserer vom Zeitungsklatsch heruntergekommenen Intimneugier) im unklaren, ob die Sehbehinderte etwas gesehen oder bloß so schlecht gedacht hat vom guten Ed, wie die Meisterdarstellerin familiärer Scheinheiligkeit.

mt DAS HANDICAP

Roman van Gabriele Wohmann I erlag R. Piper, München 1996 Um 311 Seilen, geb., ÖS29S,

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