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Das letzte Blatt

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In einer Künstlerkolonie, ganz oben in einem gedrungenen, dreistöckigen Haus, hatten Sue und Johnsy ihr Studio. „Johnsy“ war eine Abkürzung von Joanna. Die eine kam von Maine, die andere von Kalifornien. Sie hatten sich beim table d'hote bei „Delmonico“ in der 8. Street kennengelernt und fanden ihren Geschmack in der Kunst, Zichoriensalat und Bischofsärmel so gleichartig, daß das Ergebnis das gemeinsame Studio war.

Das war im Mai. Im November stelzte ein kalter, unsichtbarer Fremder, den die Ärzte Pneumonia (Lungenentzündung) nannten, in der Kolonie herum. Hier und dort berührte er jemanden mit seinen eisigen Fingern. An die Ostseite hinüber schritt er dreist, warf seine Opfer nach Dutzenden danieder, aber seine Füße schritten langsam durch den Irrgarten der engen und moosbewachsenen Plätze.

Herr Pneumonia war nicht, was man einem ritterlichen, alten Gentleman nennen könnte. Ein Würmchen von einer Frau, mit einem von Kaliforniens Zephir verdünnten Blut, war kaum faires Wild für den rotfaustigen, kurzatmigen alten Dummkopf. Aber er warf Johnsy nieder. Sie lag fast bewegungslos auf ihrer gemalten, eisernen Bettstatt und sah durch die kleinen, holländischen Fensterscheiben auf die leere Seite des nächsten Ziegelhauses.

Mit einem düsteren Wink seiner Braue bat eines Morgens der vielbeschäftigte Arzt Sue in den Gang hinaus.

„Sie hat eine Chance unter... sagen wir zehn!“ sagte er, als er das Quecksilber in seinem Thermometer hinunterschüttelte. „Und diese Chance ist für sie, daß sie leben will. Diese Art und Weise, welche die Leute haben, sich beim Leichenbestatter anzustellen, gibt der ganzen Pharmazie ein blödes Aussehen. Ihre kleine Dame hat sich in den Kopf gesetzt, daß sie nicht mehr gesund werden Wird. Liegt ihr irgend etwas Besonderes am Herzen?“

„Sie, sie wollte eines Tages die Bucht von Neapel malen.“

„Malen? Blödsinn! Liegt ihr irgend etwas Besonderes am Herzen, etwas, das wert wäre, zweimal daran zu denken! — Ein Mann, zum Beispiel?“ „Ein Mann?“ sagte Sue, mit dem Schwirren einer Maultrommel in ihrer Stimme. „Ist ein Mann wert... aber, nein, Doktor, da ist nichts dieser Art.“

„Nun, dann ist es die Schwäche“, sagte der Arzt. „Ich werde alles tun, was ich als Arzt tun kann. Aber, wenn immer meine Patientin anfängt, die Wagen bei ihrer Begräbnisprozession zu zählen, rechne ich 50 Prozent von der Heilkraft der Medizin ab. Wenn Sie sie dazu bringen können, Fragen über die neue Wintermode in Mantelärmel zu stellen, verspreche ich Ihnen eine 1 : 5-Chance, an Stelle 1 : 10.“

Nachdem der Arzt gegangen war, ging

Sue in ihren Arbeitsraum und weinte ein Papiertaschentuch zu Brei. Dann schlenderte sie, Negermusik pfeifend, mit ihrem Zeichenbrett in Johnsys Zimmer.

Johnsy lag, kaum eine Erhebung unter dem Bettzeug, mit ihrem Gesicht zum Fenster. Sue hörte auf zu pfeifen, sie dachte, Johnsy schlafe. Sie richtete ihr Brett und begann eine „Feder- und Tinte'-Zeichnung, um eine Magazin-Story zu illustrieren. Junge Künstler müssen ihren Weg zur Kunst damit pflastern, daß sie Bilder zu Magazingeschichten zeichnen, die junge Schriftsteller schreiben, um ihren Weg zur Literatur zu pflastern.

Als Sue gerade ein Paar eleganter Pferdeparadereithosen und ein Monokel an der Gestalt des Helden, eines Idahocowboys, skizzierte, hörte sie einen tiefen Laut, einige Male wiederholt. Sie trat schnell an das Bett. Johnsys Augen waren weit geöffnet. Sie sah zum Fenster hinaus und zählte — zählte nach rückwärts.

„Zwölf“, sagte sie. Und ein wenig später .elf“, und dann „zehn“ und „neun“. Und dann „acht“ und „sieben“ fast zugleich.

Sue sah besorgt aus dem Fenster. Was gab es dort zu zählen? Es war dort nur ein kahler, öder Hof und die leere Seite eines Ziegelhauses, 20 Fuß entfernt. Ein alter, alter Efeustock, verknorrt und verfault, kletterte halbwegs die Ziegelwand hinauf. Der kalte Atem des Herbstes hatte seine Blätter vom Rebstock getrieben, bis sich seine Skelettzweige, fast nackt, an die mürrischen Ziegel klammerten.

„Was# gibt es, Liebe?“ fragte Sue. „Sechs“, sagte Johnsy beinahe flüsternd. „Sie fallen jetzt rascher. Vor drei Tagen waren es beinahe hundert. Ich bekam Kopfschmerzen vom Zählen. Aber jetzt ist es leicht. — Da geht wieder eines. — Jetzt sind nur mehr fünf übrig!“

„Fünf was, Liebe? Sage es deiner Sudie.“

„Blätter. Am Efeustock. Wenn das letzte geht, muß auch ich gehen. Ich weiß das seit drei Tagen. Hat es dir der Arzt nicht gesagt?“

„Oh, ich habe noch nie von so einem Unsinn gehört!“ sagte Sue mit absichtlich mutigem Hohn. „Was haben alte Efeublätter mit deiner Genesung zu tun? Und du hattest diesen Efeu doch immer so gerne, du'schlimmes Mädchen! Sei kein Gänschen! Der Arzt erzählte mir diesen Morgen, daß deine Chance, um wirklich bald gesund zu werden — warte einmal, wie sagte er genau? —, er sagte, die Chancen seien 10 : 1. Nun, das ist beinahe eine ebensolche Chance, wie wir sie in New York haben, wenn wir in den Autos fahren. Oder an einem Neubau vorübergehen. Versuche jetzt ein wenig Suppe zu nehmen und laß Sudie zu ihrer Zeichnung zurückkehren, daß sie sie dem Redakteurmenschen anhängen kann, um ein wenig Portwein für ihr krankes Kind zu kaufen und Schweinskoteletten

„Du brauchst keinen Wein mehr kaufen“, sagte Johnsy, mit ihrem Blick ständig zum Fenster hinaus. „Da geht ein weiteres! Nein, ich will keine Suppe. Da sind nur mehr vier übrig. Ich möchte das letzte fallen sehen, bevor es dunkel wird. Dann gehe auch ich ...“

„Johnsy, mein Liebes“, Sue beugte sich über sie, „willst du mir versprechen, deine Augen geschlossen zu halten und nicht zum Fenster hinauszuschauen, bis ich meine Arbeit bendet habe? Ich muß diese Zeichnung morgen abliefern. Ich brauche das Licht, sonst hätte ich die Jalousien heruntergelassen.“

„Könntest du nicht in einem anderen Zimmer zeichnen?“ fragte Johnsy kalt.

„Ich möchte lieber hier bei dir sein. Im übrigen will ich nicht, daß du ständig auf diese dummen Efeublätter schaust.

„Sage es mir, sobald du fertig bist.“ Johnsy schloß die Augen und lag, weiß und still, wie eine gestürzte Statue. „Denn ich möchte das letzte Blatt fallen sehen. Ich bin es müde, zu warten. Ich bin es müde, zu denken. Ich möchte mich von allem freimachen und hinuntersegeln, hinunter — gerade wie eines dieser armen, müden Blätter.“

„Versuche zu schlafen, bat Sue. „Ich muß Behrmann als Modell für den alten Bergmann heraufrufen. Ich werde keine Minute fort sein. Versuche ja nicht, dich zu rühren, bis ich zurück bin!“

Der alte Behrmann war ein Maler, der unten im Parterre wohnte. Er war über sechzig und hatte einen Michelangelo-Moses-Bart, der sich von seinem Satyren-haupt an seinem Zwergenkörper her-niederkräuselte. Vierzig Jahre hatte er gemalt, ohne je mit seinem Pinsel dem Saum der Robe seiner Herrin, der Malkunst, nahezukommen. Immer wollte er ein Meisterstück malen, halte es aber noch nie auch nur begonnen. Viele Jahre hatte er nichts gemalt, als hie und da schlechte Bilder für Geschäfts- oder Reklamezwecke. Er verdiente sich ein wenig Geld als Modell für die jungen Künstler in der Kolonie, die sich kein professionales Modell leisten konnten. Er trank Gin bis zum Exzeß und sprach immer noch von seinem zukünftigen Meisterstück.

Im übrigen war er ein feuriger, kleiner, alter Mann, der Schwächen an anderen verurteilte und sich selbst als besonderer Wächter und Beschützer der beiden jungen Künstlerinnen erhoben hatte. Sue fand Behrmann mit einem starken Geruch nach Wacholderschnaps in seinem düsteren Zimmerchen. In einer Ecke war eine leere Leinwand auf einer Staffelei. Seit 25 Jahren wartete sie hier, die ersten Pinselstriche des Meisterwerkes zu empfangen.

Sue erzählte von Johnsys Ideen. Und wie sie fürchte, Johnsy würde wirklich, selbst so leicht und fragil wie ein Blatt, dahinschweben, wenn der nur mehr unbedeutende Halt an diese Welt weiter mit geröteten Augen offen weinend, schrie seine Verachtung und seinen Spott über solch idiotische Vorstellungen.

.Was! Gibt es da Leute in dieser Welt mit solcher Narrheit. Daß sie sterben werden, weil Blätter von dem verdammten Geranke fallen! Ich habe noch nie so etwas gehört! Nein“, schrie er, .ich will mich nicht als Modell für Ihren blöden Bergmann hergeben. Warum erlauben Sie, daß so ein alberner Gedanke in ihren Kopf dringt? Ach, die arme, kleine Miß Johnsy!“

„Sie ist sehr krank und das Fieber hat ihre Gedanken mürbe gemacht“, antwortete Sue, „und voll fremdartiger Wünsche. — Also, Herr Behrmann, wenn Sie nicht für mich Modell stehen wollen, dann lassen Sie es. Aber ich glaube, Sie sind ein schrecklicher, alter, alter Flib-bertigibitt.“

„Sie sind gerade wie eine Frau! Wer sagt denn, daß ich nicht Modell stehen will! Gehen Sie nur, ich komme mit Ihnen. Seit einer halben Stunde habe ich versucht, Ihnen zu sagen, daß ich fertig bin zu gehen. Gott! Dieser Platz da ist nicht gut genug, daß so ein liebes Mädchen, wie Fräulein Johnsy, krank darniederliegen könnte. Eines Tages werde ich ein Meisterstück malen und wir wev den alle wegziehen. Gott! Ja!“

Johnsy schlief, als sie hinaufkamen. Sue ließ die Jalousien bis zur Fensterbank herunter und winkte Behrmann in den anderen Raum. Von dort guckten sie ängstlich nach dem Efeustock. Dann sahen sie einander, ohne zu sprechen, an. Ein beharrlicher, kalter Regen, vermischt mit Schnee, fiel. Behrmann, in seinem alten, blauen Hemd, setzte sich als Bergmann auf einen umgekehrten Kessel als Felsen.

Als Sue nach einem einstündigen Schlaf am nächsten Morgen erwachte, fand sie Johnsy mit matten, weit geöffneten Augen auf die heruntergelassenen Jalousien starren.

„Lasse sie hinauf. Ich möchte schauen!“ befahl sie wispernd.

Gequält gehorchte Sue. Aber oh! — trotz des peitschenden Regens und wilder Windböen, die die liebe lange Nacht hindurch gedauert hatten, stand doch noch von der Ziegelwand ein Efeublatt ab. Es war das letzte am Stock. Noch dunkelgrün nahe am Stengel, aber seine gezackten Ecken im Gelb der Auflösung und des Verfalles. Es hing tapfer vom Zweig, einige 20 Fuß über dem Boden.

„Es ist das letzte“, sagte Johnsy. „Ich dachte, es würde sicherlich während der Nacht fallen. Ich hörte den Wind. Es wird heute fallen — ich werde zur selben Zeit sterben!“

„Liebe, Liebe!“ sagte Sue, und legte ihr zerrüttetes Gesicht auf den Polster. „Denke an mich, wenn du schon nicht an dich selbst denken willst. Was würde ich tun?“

Aber Johnsy antwortete nicht. Das Einsamste auf der Welt ist eine Seele, die Reise anzutreten. Die Vorstellung davon schien immer mehr und mehr von ihr Besitz zu ergreifen, als sich nach und nach die Bande, die sie an Freundschaft und an die Welt knüpften, lockerten.

Der Tag schlich zu Ende und sogar durch das Zwielicht konnten sie das einsame Efeublatt sehen, das sich an seinem Stengel an die Wand klammerte. Und dann, mit Eintritt der Nacht, war der Nordwind wieder losgelassen, während der Regen noch immer gegen die Fenster schlug und von den niedrigen holländischen Dachrinnen herunterplatschte.

Sobald es hell genug war, befahl Johnsy, die Unbarmherzige, die Jalousien hinaufzulassen. Das Efeublatt war noch immer da.

Johnsy lag lange Zeit und sah es an. Dann rief sie Sue, die ihre Hühnersuppe über dem Gasherd rührte.

„Ich bin ein schlechtes Mädchen gewesen“, sagte Johnsy. „Irgend etwas ließ dieses letzte Blatt bleiben, um mir zu zeigen, wie böse ich gewesen war. Es ist eine Sünde, sich das Sterben zu wünschen. Du darfst mir jetzt ein wenig Suppe bringen und Milch mit etwas Wein darin und... bringe mir zuerst einen Handspiegel und dann packe einige Polster um mich herum. Ich möchte dir beim Kochen zuschauen.“

Eine Stunde später sagte sie: „Sudie, eines Tages hoffe ich die Bucht von Neapel zu malen.“

Der Arzt kam am Nachmittag und Sue fand einen Vorwand, um mit ihm hinaus in den Gang zu gehen, als er fortging.

„Gleiche Chancen“, sagte der Arzt, Sues magere, zitternde Hand in die seine nehmend. „Mit guter Pflege werden Sie gewinnen. Und nun muß ich nach einem anderen Fall in diesem Hause schauen. Behrmann ist sein Name. Eine Art Künstler, glaube ich. Ebenfalls Lungenentzündung. Er ist ein alter, schwacher Mann und es ist eine akute Attacke. Es gibt für ihn keine Hoffnung. Aber er fährt heute ins Krankenhaus, damit er bequemer liegt.“

Am nächsten Tag sagte der Arzt zu Sue: „Sie ist außer Gefahr. Sie haben gesiegt. Gute Ernährung und Pflege nun — das ist alles.“

Und diesen Nachmittag kam Sue ans Bett, wo Johnsy zufrieden mit einer Strickarbeit — einem blauen und sehr zwecklosen Schulterschal — lag. Sie legte einen Arm um sie, die Polster und alles.

„Ich muß dir etwas sagen, weiße Maus“, sagte sie. „Herr Behrmann starb heute im Krankenhaus an Lungenentzündung. Er war nur zwei Tage krank gewesen. Der Torwart fand ihm am Morgen des ersten Tages hilflos vor Schmerzen, unten in seinem Zimmer. Seine Schuhe und seine Kleidung waren durch und durch naß und eisig kalt. Man konnte sich nicht vorstellen, wo er in jener schrecklichen Nacht gewesen sei. Und dann fanden sie eine noch brennende Laterne und eine Leiter, die von ihrem Platz gezerrt worden war. Einige zerstreute Pinsel und eine Palette mit grün und gelb gemischten Farben, und ... Schau hinaus aus dem Fenster, Liebe, auf das Efeublatt an der Wand. Hast du dich nie gewundert, warum es nie flatterte, oder sich bewegte, wenn der Wind blies?

Ah, Liebling, es ist Behrmanns Meisterstück! Er malte es dorthin in der Nacht, als das letzte Blatt fiel!“

Übersetzung aus dem Englisdien von Ilse N i t s c b

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