Die ostpreußische Gräfin

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Eine Instanz der Publizistik wird 90: Marion Gräfin Dönhoff, Herausgeberin der "Zeit".

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Eine Instanz der Publizistik wird 90: Marion Gräfin Dönhoff, Herausgeberin der "Zeit".

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Als 1924 ihre älteste Schwester im Kindbett stirbt, zieht sie deren beide, drei und vier Jahre alten Buben groß (mit 18 und 19 werden beide in Rußland fallen). Wenige Tage nach Hitlers Machtergreifung am 30. Jänner 1933 klettert die Blaublütige zusammen mit einem kommunistischen Studenten aufs Dach der Frankfurter Universität, um die dort gehißte Hakenkreuzfahne (erfolglos) zu entfernen. Sie gehört, als einzige Frau, zum Kreisauer Kreis, dem zivilen Arm der Hitler-Attentäter vom 20. Juli. Mit dem Geld des 1988 verliehenen Heine-Preises und weiteren Spenden stiftet sie der Stadt Kaliningrad, vormals Königsberg, das im Zweiten Weltkrieg verlorengegangene Kant-Denkmal. Aus ihren Buchhonoraren finanziert sie seit Jahren eine Übergangswohnung für haftentlassene Männer.

Das (und einiges mehr) - zu finden in der Biographie Alice Schwarzers (1996/99) - sind weniger bekannte Seiten einer Frau, die wie keine andere im Nachkriegsdeutschland Meinung gemacht und geprägt hat. Und sie tut es heute noch: Marion Gräfin Dönhoff. Am 2. Dezember wird sie 90. Man nennt sie "die Gräfin". Manche meinen: "die rote Gräfin". Bei der Zeit ist sie von Anfang an dabei: Im Dezember 1945 kam die Anfrage, im März 1946 ihr erster Beitrag. Auf acht Seiten brachte es damals das Blatt, heute sind es über achtzig. Hamburg verdankt der Zeit (neben dem Spiegel) seinen Ruf als Medienmetropole. Mit 59 wurde das Gründungsmitglied Chefredakteurin, die sie heimlich längst war, 1973 machte sie Theo Sommer Platz. Dönhoffs Leben widersteht sämtlichen Klischees einer ostpreußischen Landadeligen: Mit 15 erzwingt sie ihre Übersiedlung ins 600 Kilometer entfernte Berlin und macht als einziges Mädchen ihrer Klasse Abitur. Sie bereist Afrika und Nordamerika. Sie studiert. Sie verwaltet (ab 1939) das Familiengut. All das schickt sich nicht für die Tochter eines Diplomaten und einer Palastdame der Kaiserin, die mit den Lehndorffs, Metternichs und Weizsäckers verwandt ist.

In Frankfurt am Main, wo 1848 ihr Großvater - ohne Rücksprache - als preußischer Gesandter in der Paulskirche die Aufhebung der Pressezensur verkündet hatte und daraufhin von Otto von Bismarck abgelöst wurde, studiert sie Volkswirtschaft. Unmittelbar nach der Machterschleichung der Nazis wechselt sie nach Basel. Ihre Doktorarbeit über Schloß Friedrichsstein gerät im nachhinein zur geistigen Inbesitznahme, ehe das Anwesen materiell verlorengeht und 600 Jahre Geschichte ausgelöscht sind. Später tröstet sie sich mit "Kindheit in Ostpreußen" und "Namen, die keiner mehr nennt": Abschiedsbücher. Bei Minus 20 Grad flieht sie Ende Jänner 1945 aus Ostpreußen. Die Odyssee von Ost nach West dauert sieben Wochen.

Dann beginnt das Leben bei der Zeit. Bis heute ohne Vertrag. In den fünfziger Jahren übernimmt sie das politische Ressort. Über "Dönhoffs Kaffeekränzchen" wird gespöttelt: Monatlich versammeln sich bei ihr zu Hause führende Leute aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, darunter Carl Friedrich von Weizsäcker und Helmut Schmidt (heute Mitherausgeber der Zeit), eine Art "Think tank" und "Braintrust", lang bevor es die großen Worte gab. Für konservative Neider eine "protestantische Mafia". Dönhoff holt den Staatsrechtler Theodor Eschenburg und den Soziologen Ralf Dahrendorf als Berater und Mitarbeiter zur Zeit. Sie entdeckt Henry Kissinger und ist mit George F. Kennan befreundet. Die Aussöhnung mit Polen ist ein Herzensanliegen. Ihre Zusage, Willy Brandt zur Unterzeichnung der Warschauer Verträge 1970 zu begleiten, zieht sie im letzten Augenblick zurück. Mit Sekt auf den endgültigen Verlust ihrer Heimat anstoßen? Das kann sie nicht.

Aus dem Tagesgeschäft der Redaktion hat sie sich verabschiedet. Doch wer wagte ihr zu widersprechen? Sie ist Instanz. Ihre Stimme gilt im gesellschaftspolitischen Diskurs, sie erhebt sie nach wie vor. Das wissen auch die, die sie als "Fossil" abtun. Quoten-Journalismus ist ihr zuwider.

In den letzten Jahren ist Dönhoff vielfältig gewürdigt worden. Anfang 1999 erhielt sie in Wien den Bruno-Kreisky-Preis. Im Oktober 1999 wurde sie zur Ehrenbürgerin Hamburgs gewählt. "Ihr" Blatt ehrt sie jetzt mit einem Heft des Magazins "ZEIT-Punkte"; ihre besten Artikel sind dort nachzulesen.

Marion Dönhoff. Ein widerständiges Leben. Von Alice Schwarzer. Droemer-Knaur, München 1999. 345 Seiten, TB, öS 109,-/e 7,92

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