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„Der Graf von Luxenburg“ nebst einem Nachspiel

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Die Faschingsvorstellung in der Volksoper begann mit einer lustigen Persiflage auf die während der letzten Jahre in Mode gekommenen konzertanten Opernaufführungen. Ein großer Chor, grau in grau, füllt in strenger Sitzordnung die Bühne,, dann tritt der Hauptdarsteller aus der Masse hervor und beginnt sein Auftrittslied in feierlichem Händel-Stil, dazu vollführen zwei kleine Bewegungsgruppen ekstatisch-gymnastische Frei übungen ä la Mary Wigman, bis es dem Grafen von Luxenburg, Fred Liewehr, zu langweilig wird und er vorschlägt, zur guten alten Operette zurückzukehren. Hierauf setzt sich mit noch nie erlebter Turbulenz (und wir haben uns in der Volksoper schon an Verschiedenes gewöhnt!) Adolf Rotts Rotationsmaschinerie in Bewegung. Es rotiert nicht nur die Bühne, sondern auch auf ihr werden auf beweglichen Versatzstücken singende Schauspieler hin und her geschoben, die zu-, weilen auf trapezähnlichen Gebilden in die Höhe entschweben oder sich als Dii ex machina von oben in das bunte Spiel herunterlassen. Dazu wird leidenschaftlich gesungen und temperamentvoll getanzt und musiziert. Freilich kommen in diesem Wirbel einzelne Arien und Duette ein wenig zu kurz. Da: wir aber nicht das. Gefühl haben, daß • Lehars Partitur (eine der besten übrigens, die der erfolgsichere Operettenzauberer geschrieben hat) unter Denkmalschutz gestellt werden muß, und da man schließlich auch nichts dagegen hat, von den geistlos-sentimentalen Texten abgelenkt zu werden, ist gegen diese Art der „Erneuerung" grundsätzlich nichts einzuwenden Eine gewisse Grenze scheint uns dort überschritten, wo die Handlung allzu unmotiviert über die Rampe ins Proszenium und in den Zuschauerraum übergreift. Zwischen den Sitzreihen der Zuschauer herummarschierende und singende Chormitglieder — das wirkt eher desillusionierend als stimmungsfördernd. In Walter Hoeßlin, Elli Rolf, Erika Hanka und einem Stab erfindungsreicher Techniker hatte der Regisseur Helfer an der Hand, ohne die er seine oft ans Phantastische grenzenden Vorstellungen nicht realisieren könnte. (Unter der musikalischen Leitung von Anton Paulik sangen Fred Gewehr. Esther Rethy, Gretl Schörg. Per Gründen und Laszlo Szemere die Hauptpartien.)

Am gleichen Abend, zu später Stunde — gegen 22 Uhr — begannen im GroßenKonzerthaussaal die Darbietungen eines aus sechs Bläsern und vier Rhythmikern bestehenden amerikanischen Jazzensembles. Unter dem Titel „Jazz at the P h i 1 h a r m o n i c" hörte man eine zweistündige Darbietung von einer Wildheit, Rasanz und Lautstärke, gegen welche der modernisierte „Graf von Luxenburg'' in der Volksoper wie ein gutes altes Singspiel im Gartenlaubestil anmutete. Der erste Teil dieses sensationellen Jazzkonzerts bildete eine sogenannte Jam Session, eine freie Improvisation, die auf den ursprünglichen Jazzstil der zwanziger Jahre zurückgeht. Hier haben vor allem die Bläser Gelegenheit, nicht nur mit ihrer Virtuosität, sondern auch mit ihren spontanen Einfällen zu brillieren, während die Rhythmusgruppe, bestehend aus Klavier, Schlagwerk, Gitarre und Kontrabaß, eine Art variablen Ostinatos ausführt. Erregendster Höhepunkt dieses Teiles war ein Schlagwerksolo von einer rhythmischen und klanglichen Differenziertheit, die sowohl Strawinskys „Sacre" als auch Bartöks ..Schlagwerksonate" in den Schatten stellte. Der zweite Teil hatte ruhigeren und mehr kammermusikalischen Charakter. Interessant war hier, daß sich Zitate aus Debussy,

Ravel und Gershwin mit der vorwiegend impressionistischen Harmonik der Begleitung ganz zwanglos verbinden. Die „First Lady of Song", Ella Fitzgerald, besitzt einen sehr ausgeprägten Eigenstil, der Ausdruck und instrumentale Führung der Singstimme auf eine verblüffende Weise vereinigt. In dem bis auf den letzten Platz — vor allein von jüngeren Männern — gefüllten Saal herrschte eine Atmosphäre, die manchmal der des Heumarkts glich, manchmal aber auch an ein modernes Massenritual denken ließ. Das gellende Pfeifen und tumultuöse Klatschen nach jeder Darbietung übertraf, nach Phon gemässen, die musikalischen Darbietungen um ein Vielfaches. Es scheint uns wichtig genug, diese neue Form einer völlig undifferenzierten und brutalen Massenekstase zu registrieren.

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