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Arm und reich und Schein und Sein

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„Zu ebener Erde und Im ersten Stock“ von Johann Nestroy im „Neuen Theater in der Scala“ (Es spielen u. a. Emil Stuhr, Otto Tausig, Gustav Dieffenbacher, Edith Heyduk, Hans RUdgers, Peter Ertl, Trude Bechmann. Regie: Karl Bachmann, Bühnenbild: Heinrich Sußmann, Musik: Marcel ■ Rubin).

i „Wollust der Anständigkeit“ von Luigi Pirandellö im „Kleinen Theater im Konzerthaus“ (In den Hauptrollen Walter Hirt und Maria Groihs und Elisabeth Stemberger abwechselnd; Regie: Otto Ambros, Bühnenbild: Robert Holer-Ach).

Zwei große Dramatiker, zwei Ironiker, zwei Inszenierungen — und welch ein Unterschied! Nestroy, der Possenreißer, der Wissende, das Genie, und eine plastische Inszenierung in der Scala, sowohl zur ebenen Erde wie im ersten Stock, und Pirandellö, der blitzgescheite Aphoristiker und diabolische Gedankenspieler, und eine farblose Inszenierung im Konzerthaustheater, fast verunglückt, sowohl was die „Wollust“, wie was die „Anständigkeit“ betrifft.

Freilich verrät das auf geteilter Bühne gespielte Stück von den Launen des Glücks und von arm und reich mit einer messerscharfen, sanguinischen, aber warmherzigen und humorvollen Analyse der menschlichen Schwächen die ganze Liebe Nestroys zu seinen Schluckers und Fetzen-Damians im Parterre. Die von oben, die Goldfuchse und Bonbons und Wachsweichen sind mehr Stichwortgeber aus einer Welt, die weniger gestaltet als zum Zwecke des üblen Beispiels hingestellt ist, und von der nur über den Weg der Liebe der kleinen Emilie und den Schurkereien des Gauners Johann ein Kontakt mit der unteren, für Nestroy wesentlichen Welt besteht. Goldfuchs wird erst dann menschlich, als ihn das Unglück ereilt hat, und seine „Untrischen“ verliert Nestroy aus den Augen, sobald sie „oben“ angelangt sind. Und trotzdem ist es das Stück eines Klassikers, voll Leben und Erlebtem, von einem köstlichen, ursprünglichen Humor und einer elementaren Bühnensicherheit. Und Bachmanns Regie arbeitet freudig und präzise und straff (wenn sie

auch gelegentlich ein wenig hinter Nestroy einher-eilt und Gefahr läuft, die Uebersicht zu verlieren;, und eine große Anzahl von Schauspielern, einige ganz reich an Können, einige etwas ärmer, geben ihr Bestes. Die beiden tragenden Rollen, der Diener Johann, mit dem prächtigen Emil S t ö h r besetzt, und Damian, von Otto Tausig dargestellt (der für seine drastische Komik stellenweise etwas zuviel' Raum fordert), stechen plastisch hervor.

Ganz anders hingegen das Konzerthaustheäter: hier sei nur Walter Hirt erwähnt, in der Rolle des Scheinehemannes Baldovino, den sich eine bürgerliche Familie, um einen Fehltritt zu kaschieren, als faules Kuckucksei selber ins Nest setzt, und der den Zeitzünder einer wild gewordenen Seriosität mitbringt, die Anständigkeit eines Mannes, der, „um es ihnen zu zeigen“, diejenigen mit seiner intellektuellen Ethik drangsaliert,-die ihn der Unseriosität bezichtigen und — Pech, was sie haben — sich bei einer Schurkerei ertappen lassen. Die Rolle kommt Walter Hirts etwas exaltiertem Spiel entgegen, er beherrscht die Bühne.

Pirandellos ironische Dialektik, seine originellen wie aggressiven Spielereien mit dem Gedanken und seine oft bohrende Problematik gelten seiner zutiefst skeptischen Ueberlegung: wie wenig der Mensch als Wesen der Gesellschaft fixiert sei, und wie groß das Mißverständnis um Sein und Schein. Die Aufführung im Konzerthaustheater war auch wenig fixiert, und das Mißverständnis der Regie von Otto Ambros zu Pirandellö war zumindest ebenso groß wie der Unterschied zwischen Pirandellö und Goldoni.

Pirandellö ist nicht nur kein Lustspielautor, wie man offenbar meinte, er ist fast ein Dramatiker, wenn er an dem echten Drama auch vorbeizielt. Sein Held, der tragikomische Held, der Narr, der klassische Held, der gegen die Gesellschaft revoltiert, geht in „Wollust der Anständigkeit“ nicht unter, er geht mit seiner Teufelsmaschine nicht in die Luft, sondern wird elegisch und heiratet. Im letzten Akt hat er seine Bombe schon längst entschärft, quängelt nur noch ein bißchen und geht den Leuten auf die Nerven. Paul B1 a h a

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