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Ist das Theater tot?

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MACHT UND OHNMACHT DES THEATERS. Reden, Regeln, Rechenschaft. Ausgewählte Werke, Band VI. Von Ernst Lothar. Paul-Zsolnay-Verlag, Wien, Hamburg. 332 Seiten. S 130.—. . . .

Es gibt kaum einen Theaterkritiker, der für diesen Beruf dermaßen vielseitige Voraussetzungen besitzt wie Ernst Lothar. Der heute Acht-undsiebzigjährige war elf Jahre lang Staatsanwalt, wurde Hofrat, er führte zehn Jahre hindurch die Literaturredaktion der „Neuen Freien Presse“, er schrieb zahlreiche, sehr beachtete Romane, er leitete zwei Jahre hindurch das Theater in der Josefstadt, sprach in den USA über vergleichende Literatur und Dramatik, betätigte sich als amerikanischer Theateroffizier und führte Regie am Burgtheater und bei den Festspielen.

Den Bruch, der in unseren Tagen in der mehr als zweitausendjährigen Entwicklung des Dramas eingetreten ist, beurteilt Lothar als Revolution um der Revolte willen, ohne deren Kennzeichen und ihre Ursachen herauszuarbeiten. Beckett wird abgewertet, Ionescos „König stirbt“ besitze zwar dichterische Vorzüge, aber Sterbensangst zu verbreiten sei unzulässig. An anderer Stelle heißt es, mit Beckett und Ionesco sei man bei der „Torheit letztem Schluß“ angelangt. Lothar steht so sehr im Weltbild einer heilen Zeit — das ist das überaus Sympathische an ihm —, daß er die Sicht auf die Realität der unlösbaren Diskrepanz, des „Absurden“, die das Ungeheuerliche unseres Jahrhunderts so sehr bedingte, kurzerhand ablehnt. Die erlebnismäßigen Schlußfolgerungen, die sich für den voll in der heutigen Zeit stehenden Menschen zwangsläufig aus dieser Kettenreaktion des Unheils ergeben, vollzieht er nicht. Das Großartige des Vergangenen wird voll erfaßt, nicht aber die völlig neue Situation der Dramatik, ihre Ursachen und Motivationen.

Doch sagt Lothar überaus Bemerkens- und Beherzigenswertes über das Theater unserer Zeit, soweit es von diesen Fragen unabhängig ist. Er wendet sich mit anerkennenswertem Nachdruck gegen die technischmaterialistische Welle, die geistgefährlich die Welt überspült, und meint, daß wir daher der Religion, der Wissenschaften, der Künste bedürfen wie noch nie. Dem Theater komme da mehr denn je ein Primat zu, wobei es infolge seiner Spitzenposition in unserer Zeit der EntIndividualisierung stets das Individuum in den Mittelpunkt stellen solle. Ein sehr schöner Satz: Die Illusion der Irrealität sei fruchtbarer als die der Realität. Man kann da nur zustimmen, das Unerkennbare ist stärker als das einigermaßen Erkennbare. Doch ob es da heute vor allem um Verzauberung gehen kann, ist nicht unbedingt zu bejahen. Alles in allem: Lotbar geht es um die geistige Potenz des Theaters, die leider in Wien durch den dauernden Ruf nach dem Schauspielertheater untergraben wird.

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