nehammer - © ROLAND SCHLAGER

Armut spüren

19451960198020002020

Über Karl Nehammers "Burger"-Video, soziale Scham und rohe Bürgerlichkeit.

19451960198020002020

Über Karl Nehammers "Burger"-Video, soziale Scham und rohe Bürgerlichkeit.

Werbung
Werbung
Werbung

„Der spürt sich nicht“: Mit diesem Satz bedenkt man gemeinhin Menschen, denen es in puncto Sensibilität gerade am Grundlegendsten mangelt. Alkohol und Psychopharmaka können Auslöser solcher Ausnahmezustände sein. Es kann sich aber auch um einen schleichenden Prozess emotionaler Abstumpfung handeln.

„Der spürt sich nicht“: Das dachten sich viele wohl auch angesichts jenes Videos, das seit Mittwochabend dieser Woche durch die (sozialen) Medien rauscht. (Lesen Sie dazu auch eine aktuelle Quint-Essenz von Brigitte Quint). Es zeigt Österreichs Bundeskanzler, wie er Ende Juli 2023 in einer Vinothek in Hallein vor ÖVP-Parteifreunden steht und Tacheles darüber redet, was aus seiner Sicht falsch läuft im Hause Österreich. Da ist nicht nur die Sozialpartnerschaft, gegen die weder ein Staat noch eine taugliche Rot-Weiß-Rot-Card zu machen sei. Da sind auch Frauen, die Teilzeit arbeiten, obwohl sie keine Betreuungspflichten haben; und Eltern, die in ihrer Verantwortung für ihre Kinder versagen, angefangen beim Essen.

Im Modus der Verachtung

All das könnte man strukturell thematisieren - und Lösungen anbieten: vom warmen Mittagessen in Kindergärten und Schulen bis zu mehr Steuer-Anreizen für Vollzeitarbeit. Doch der Kanzler, der neuerdings "Glaub an Österreich" predigt, bevorzugt im geschützten Rahmen offenbar den Modus der Verachtung. „Wisst’s, was die billigste warme Mahlzeit in Österreich ist? Ist nicht gesund, aber sie ist billig: Ein Hamburger bei McDonald’s“.

Dass der Kanzler und viele andere in diesem Land weder erahnen können noch wollen, wie sich finanzielle Armut anfühlt, mit wieviel Scham sie einhergeht und wie oft sie strukturelle Ursachen hat, ist eine Schande.

Für soviel Zynismus braucht es schon ein gerüttelt Maß an Verrohung. „Rohe Bürgerlichkeit“ hat der deutsche Soziologe Wilhelm Heitmeyer diese Haltung genannt, die sich bei vermeintlich kultivierten Menschen gegenüber Flüchtlingen ebenso zeigt wie gegenüber sonstigen „Deklassierten“. „Eure Armut kotzt mich an“: So lässt sie sich trefflich auf den Punkt bringen.

Sie betrifft freilich mittlerweile weite Kreise in Österreich: Nicht wenige werden dem im Video Gesagten inhaltlich zustimmen. Für Herbert Kickl ist es indes eine weitere Steilvorlage („Nehammer ist empathielos, menschenverachtend und abgehoben!“) Mit christlichen Werten ist solche Rohheit ebenso wenig kompatibel wie mit dem, was man sich von einem Staatsmann - der ein Kanzler doch irgendwie auch sein sollte - erwarten muss.

„Wir sind alle gelernte ÖVPler, wir wissen, was leiden heißt“, sagt Karl Nehammer im Video süffisant. Dass er und viele andere weder erahnen können noch wollen, wie sich finanzielle Armut anfühlt, mit wieviel Scham sie einhergeht und welche strukturellen Ursachen hat, ist eine Schande.

Navigator

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?

Mit einem Digital-Abo sichern Sie sich den Zugriff auf mehr als 175.000 Artikel seit 1945 – und unterstützen gleichzeitig die FURCHE. Vielen Dank!

Mit einem Digital-Abo sichern Sie sich den Zugriff auf mehr als 175.000 Artikel seit 1945 – und unterstützen gleichzeitig die FURCHE. Vielen Dank!

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung