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Augenzeugen

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An der Kreuzung Langstraße-Kleinstraße prallen zwei Wagen in dem Moment zusammen, in dem beide in die Außendorferstra-ße einbiegen wollen. Da bei dem Zusammenprall beide Lenker erheblich verletzt werden und ihr sofortiger Abtransport im Rettungs.-auto angemessen scheint, wendet

sich die Streifenpolizei an die in großer Anzahl Herumstehenden, um herauszufinden, wie es zu dem Unfall gekommen war.

Der gelbe Fiat - sagt ein älterer Mann - hat entweder gar nicht oder zu spät gebremst. Der unkonzentrierte Fahrer in Jeans hatte eine Zigarette im Mund, aus dem Autoradio kam Musik, Tschaikowskys Sechste, was bei der jungen Generation eher selten ist. Ich habe die Schlußtakte genau gehört, bevor es zum Krach kam. Dann konnte ich nichts mehr sehen.

Der zweite, der sich meldete, ist ein Schüler mit vollgestopfter Büchertasche. Zu schnell gefahren sei der Lenker vom gelben Fiat keineswegs. Er habe auch vorschriftsmäßig angehalten, nur als er in die für ihn freie Bahn einbiegen wollte,

habe ihn ein Wagen von hinten gerammt.

Woher dieser Wagen denn gekommen sei?

Aus dem Parkplatz dort, behauptet eine Frau. Er fuhr von dort heraus, das hab' ich gesehn.

Das sei ein Parkplatz nur für Taxis. Ob sie sich die Nummer gemerkt habe?

Mit der Nummer kann die Frau nicht aufwarten, nur wer im Wagen gesessen ist, kann sie angeben: Zwei Männer, die wie Ausländer ausgesehen haben. Zwischen den Sitzen ist ein Koffer gelegen.

Ob noch jemand anderer das Taxi beschreiben könne?

Nein, sagt der Radfahrer, der an der Stange seines Rades lehnt. Es hat nämlich keinen dritten Wagen gegeben, was die Dame erzählt, ist pure Fantasie! Ich bin hier an der Ecke gestanden, weil ich mein Eis lieber im Stehen schlecke, der gelbe Fiat war nicht schuld am Zusammenstoß, sondern der rote VW. Er kam aus der Kleinstraße und wurde von einer ziemlich aufgedonnerten Frau gelenkt. Typische Kaffee-

hausfahrerin mit Freizeitallüren. Jemand anderer würde beim Einbiegen nicht so weit in die Gegenseite fahren. Und sich auch keinen Hut mit breiter Krempe aufsetzen.

Das schmale Mädchen widerspricht ihm: das sei kein Hut, sondern eine von den modischen Maschen gewesen, die man mit Haarbüscheln aufsteckt und -

die Polizei hat aber von den Passantenaussagen genug.

Sie schreibt sich nur mehr die Daten der Bremsspuren auf.

Was nehmen Menschen tatsächlich wahr von Dingen, die sich in ihrem nächsten Umfeld ereignen? Normalsichtige besitzen laut Lexikon das Vermögen, Bilder, die auf die Netzhaut geworfen werden, deutlich zu unterscheiden. Den von außen kommenden Bildern steht aber ein Füllhorn von Innenbildern entgegen, die mit der gegebenen Sehschärfe nichts zu tun haben. Außerdem hält die Aufeinanderfolge von Geschehnissen nicht nur das Auge, sondern auch das menschliche Gehirn fest und dieses Gehirn hat unzählige Aufeinanderfolgen

gespeichert, die vielleicht im unrichtigen Moment beweglich werden.

Was der Alte von der Tschaikow-skymusik faselte, ist Blödsinn, wendet sich mit leiser Stimme eine junge Frau an den neben ihr Stehenden, der sich bisher noch nicht geäußert hat. In der Schnelligkeit kann man eine Musik nicht klassifizieren, oder? Was meinen Sie?

Ich mische mich da nicht ein, gibt der Angesprochene zur Antwort, sonst müßte ich weit ausholen, denn ich habe alles sehr genau beobachtet. Der Fiat und der VW sind zugleich eingebogen, haben einander aber nicht bemerken können, weil auf der Außendorferstraße ein Polizeiwagen durchgepfitscht ist.

Warum haben Sie das dem Streifendienst nicht gesagt?

Der Polizei einen Polizeiwagen als Täter angeben, Sie gefallen mir! Das hätte zu einem endlosen Streit und zur Dokumentenüberprüfung geführt, ich habe keinen Ausweis im Rock, da hielt ich lieber den Mund.

Ist auch gut, daß Sie das getan

haben, sagt der Bärtige, bevor er in sein Auto steigt, das er wegen des Unfalls am Gehsteigrand geparkt hat. Ich bin nämlich auf dieser Straße gefahren, ein schneller Polizeiwagen hätte mich überholen müssen!

Damit gurtet er sich an und braust los.Auch die anderen Schaulustigen zerstreuen sich, einer nach dem anderen. Zuletzt geht der alte Herr, der von der Tschaikowskymusik geredet hatte. Er würde sich wundern, wenn er wüßte, daß im Unfallwagen gar kein Kassettenrekor-der ist und der Verunfallte den Namen des russischen Komponisten nie gehört hat, weil er sich nur für den Kegelsport interessiert und daß man ihm im Spital nicht Jeans, sondern gestreifte Stoffhosen ausgezogen hat.

Was die Frau im roten VW betrifft, war sie weder aufgedonnert noch trug sie einen Hut, es sind ihr auch keine Freizeitallüren vorzuwerfen, weil sie mit ihrem VW immer um diese Zeit nach Hause fährt, wo ein Mann und zwei Kinder auf sie warten. Jetzt muß sie sich zur Hetzerei zwischen Büro und Heim auch noch mit einem Schlüsselbeinbruch abfinden.

Manchesmal käme Genaueres heraus, wenn Augenzeugen nicht die Realität, sondern frischweg ihre Hirnbilder beschrieben.

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