7053827-1991_10_20.jpg
Digital In Arbeit

Briefe, Briefe...

Werbung
Werbung
Werbung

Es gibt eine Zeit, da lächelt der Briefträger, wenn er bereits am Gartentor erwartet wird. Täglich. Das normalisiert sich. Früher oder später. Immer mehr. Nach und nach wandern weniger Briefe hin und her, von ihm zu ihr, von ihr zu ihm. Die Abstände werden länger und länger.

Und eines Tages ist seit dem letzten Brief soviel Zeit vergangen, daß er nicht mehr beantwortet werden kann.

Für Liebende hat sich das Wort Brief wohl nicht aus dem Lateinischen brevis = kurz entwickelt. Sie schreiben seitenlang und ferne Nächte zu Papier. Oder greifen sie jetzt auch nur mehr zum Telefon? Schade, wenn Hast und Nüchternheit auch diese Romantik zerstört hätten. Sie nähmen damit auch ihren Nachkommen die Chance, einmal „ganz richtig Briefträger spielen zu können”, wenn diese Jahre später die lyrisch-erotischen Ergüsse ihrer Eltern am Dachboden finden.

Später steckten dann die Klagen über die Schreibbesessenheit der Schülerin in einem blauen Brief der Direktion. Notorische Brief chen-schreiberin. Ist das schlimm? Keine Mitteilungen für Ab- sondern für Anwesende, from absentminded to absentminded. Lag es am fesselnden Unterricht?

Briefe, Briefe...

Große Geister der Weltliteratur inspirierten sich gegenseitig in Briefen. Kleine Herz- und Schmerzlichkeiten werden mit Feder und Papier ausgetragen.

Jährlich zweimalige Dankesschreiben an die Patentante für jährlich zweimalige Aussteuergeschenke. Was hätte ich für eine gute Partie abgegeben, wären nicht Stretchleintücher in Mode gekommen!

Mamas beschwörende Briefe ins Internat, ersehnte Heimwehstiller oder Verstärker. „Zieh'dich warm an und iß!” Innige Fürsorge, liebevoller Tratsch, subjektive Kommentare zum öffentlichen Leben. Seit Mme de Sevigne vor dreihundert Jahren an ihre Tochter schrieb, hat sich nicht viel geändert.

Mama, ich habe noch viele deiner Briefe. Solche mit peinlich genauer Aufteilung fürs Weihnachtsgeld. Mit Anleitung, wie man Ferse strickt und Wipfelhonig kocht. Ermahnungen: Schreib rechtzeitig an Tante Gusti, lerne fleißig und bleib brav. Die letzten, schon recht krakelig, wie sehr du jetzt alleine seist...

Wie völlig anders die Wälder aus Werbung und Verheißung. „Werfen Sie Ihr Glück nicht ungeöffnet fort!” Ich werfe doch - soviel an Glück vermag kein Irdischer zu tragen. Oder Mahnungen, Drohungen mancherlei Art: „... sehen wir uns gezwungen, die Angelegenheit unserer Rechtsabteilung zu übergeben.” Also Alarmstufe 3, Zahlung nicht mehr zu umgehen. Irgendwie rührend die Aufforderung des Finanzamtes, der Behörde umgehend mitzuteilen, wie man so lebe, wie man lebt...

Die Büttenkuverts Nichtsahnender, die das Ende ihrer Freiheit in prachtvoll gotischen Lettern verkünden; der Studienabschließer, die noch glauben, sie eilten Besserem entgegen. Und schließlich jene schwarz umrandeten, wo beim Öffnen das Herz im Hals klopft, wie arg der Schlag wohl träfe.

Wie bitter zehrte einst die Sehnsucht an Ovid nach dem fernen Rom! Ob ihm wer tröstlich Antwort schrieb auf seine vielen Briefe aus der Verbannung im rauhen Land am Schwarzen Meer?

Ein weiter Bogen durch Jahrtausende von Briefen - meist aus der Einsamkeit, Verlassenheit und Leere. Doch immer noch an einen adressiert, auf jemanden gehofft.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung