6972685-1985_36_11.jpg
Digital In Arbeit

Bummeln in Paris

Werbung
Werbung
Werbung

Auf der Fahrt nach Paris, in-, mitten der Weizenfelder der Brie, muß es einem fast auffallen. Daß nämlich die Impressionisten Frankreich gar nicht gesehen haben. Sie sehen dauernd Täler, Hänge, Büsche, Flüsse, wo in Wirklichkeit ein weites, ebenes, überbordend reiches Land wartet. Ohne jeden Traum von Gebirge im Hintergrund — wie in der Schweiz oder im Traunviertel; mit einem Waldstreif am Horizont (des bois), und einem menschenfreundlichen Himmel darüber, der keine Wolkentürme kennt, aber auch nicht die schneidende, grundlose Bläue des Südens.

Wer ist der Maler dieses Frankreich, der douce France, das in Paris am ehesten die Renaissancekirchen vertreten? Der, desserj paar Originale im Louvre die Reproduktionen weit übertreffen: Claude Lorrain. Er hat im Ausland gearbeitet und die Landschaft nicht allein mit den Augen wahrgenommen. Sie ist ihm Ausgangspunkt in die Fremde und

Heimkehrort zugleich. Die Schiffe in seinen friedvollen Häfen haben rote und blaue Segel gesetzt. Und seine Sonne ist wie das beim Namen genannte Konzentrat des mittelalterlichen Goldgrunds; sie flutet herein, bis zum Betrachter, gerade auf ihn herab. Es gibt Lorrain-Landschaften in jeder Tonart: Dur und Moll, Aufbruch und Heimkunft.

Deutschland und Japan sind Büderbuch-Länder. In Frankreich ist die BD zu Hause (BD = bände dessinee, „Comics“ wird immer ein völlig unzureichender Ausdruck bleiben). Außerhalb der Frankophonie kennt man vielleicht Goscinnys menhir-schleppenden Obelix oder bestenfalls noch, in miserablen Ubersetzungen und Drucken, die Abenteuer des ewigjungen zölibatären Tintin und seiner Crew, die der geniale Belgier Georges Remi

(alias Herge) fünfzig Jahre lang in die Geheimkammern der politischen und psychischen Automatismen geschickt hat. Bekannt dürfte auch noch die Mutter der „Frustrierten“, Ciaire Bretecher

4sein, die auf ihren planches (so heißen in sich geschlossene BD-Blätter) das Gebrabbel der intellektuellen Nach-Mai-Generation einfängt.

Ciaire Bretecher ist aber nur eine der Größen der französischbelgischen BD adulte (die Bezeichnung suggeriert zu Unrecht, daß Asterix und Tintin seinerzeit nur für Kinder waren): Ihr steht eine eigene Presse, Jahrbücher, Ausstellungen und eine Reihe von Verlagen zur Verfügung. Jedes Jahr gibt es einen salon der Zeichner in Angouleme. Die Bande Dessinee kann alles, hat Goscinny einmal gesagt, als man über die neunte Kunst auch in Frankreich noch die Nase zu rümpfen pflegte. Es gibt mittlerweile längst Geschichte und Sozialkunde in BDs, Biographien auch von Heiligen wie Bernadette Soubirous oder Franziskus. Auch die Bibel haben sieben Autoren unter Mithilfe von narrativen Theologen umgesetzt — das Alte mit mehr, das Neue Testament mit sehr wenig Glück.

In Versailles gibt es ein Zimmer, wo jedermann (genauer gesagt, jede Frau) einmal in der Woche am Frühstück der Königin teilnehmen konnte. Gebührende Garderobe war im Parterre auszuleihen. Die Österreicherin Ma-rie-Antoinette brach mit diesem für sie leeren Brauch.

Vor Marie-Antoinettes Zelle in der Conciergerie mit dem eigens eingezogenen Türsturz (damit • sich Madame Veto jedesmal bük-ken mußte) steht eine Reihe von Staffeln. Draußen der Hof mit dem Armensünderglöcklein, das den Verurteilten läutete, wenn der Karren zur Guülotine abfuhr. Die Botschaft, die sie heimlich mit einer Nadel in ein Blatt gestochen hat, könnte genausogut von irgendeinem Dienstmädchen stammen: Ich komme wieder, ich bin ständig unter Aufsicht. Wie Blindenschrift.

Der französischste Platz von Paris, der die historischen Parteiun-gen Ancien Regime — Revolution versöhnt, ist nicht die überdimensionale Place de la Concorde. Er liegt im Marais. Mit seinen roten Ziegelwänden entstand er vor dem Widerruf des Edikts von Nantes, mit dem alles angefangen hat. Es ist die heutige Place des Vosges. Ein Wunder von einem Hof, rundum Arkaden. Auf dem Platz selbst hielt man den Pferdemarkt ab. Ihren heutigen Namen hat die Place Royale Heinrichs IV. daher, daß das heue Departement Vosges das erste war, das der revolutionären Zentralregierung Steuer zahlte. An der Stirnseite das hötel des Königs, mit einem kleinen Balkon, in einem Eck hatte noch Richelieu sein Palais. Und im Eckhaus vis-ä-vis wohnte Victor Hugo, der vor hundert Jahren Verstorbene, dessen Stimme im Exü zur Stimme Frankreichs heranreifte.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung