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Das Schlaraffenland

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Mit Beginn des nächsten Schuljahres werden — wenn nicht neuerlich etwas dazwischenkommt — Schulbücher „rezeptpflichtig“. So zumindest hat Unterrichtsminister Sinowatz die neue Version für „Gratisschulbücher“ der Öffentlichkeit vorgestellt.

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Mit Beginn des nächsten Schuljahres werden — wenn nicht neuerlich etwas dazwischenkommt — Schulbücher „rezeptpflichtig“. So zumindest hat Unterrichtsminister Sinowatz die neue Version für „Gratisschulbücher“ der Öffentlichkeit vorgestellt.

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Allerdings ist das bereits der dritte Anlauf zur Einlösung eines Versprechens: Bemerkenswert dabei ist nicht so sehr die Form, in der man nun die „Gratisschulbücher“ zur Verteilung an die 1,4 Millionen Schüler bringen will, sondern der oftmalige und grundsätzliche Auffassungswandel der Regierung in dieser Frage.

Am 11. November 1970 wurde unter Federführung des SPÖ-Abge-ordneten Metzler im Parlament ein Antrag der Kreisky-Fraktion eingebracht, nach dem die Überschüsse aus dem Familienlastenausgleich für Schülerfahrtkosten und Schulbücher Verwendung finden sollten. Daran hat sich nichts geändert. Wohl aber änderte sich der Antrag in seinen entscheidenden Einzelheiten. Damals wurden 180 Millionen Schilling für die Fahrtkosten veranschlagt, für die Schulbücher 420 Millionen. Das war 1970. Und es hieß in der Antragsbegründung weiter, daß diese 420 Millionen Schilling im Jahr 1971 nur eine einmalige Ausgabe sein sollten, ab 1972 wären dafür nur noch jährlich 20 Prozent dieser Summe — also rund 84 Millionen Schilling — zur Erneuerung notwendig. Grundidee des „Gratisschulbuches“ war also die „staatliche Schülerlade“, zu diesem Zeitpunkt von der auf „Chancengleichheit in der Bildung“ bedachten SPÖ als „beste Lösung“ gepriesen.

Am 23. März des heurigen Jahres präsentierte Minister Sinowatz die Version Nummer 2: „Schulbuch-scheck“ und „Wegwerfbücher“, mit einem jährlichen Kostenaufwand von 546 Millionen Schilling, wurden nicht als „bessere“, sondern ebenfalls als „beste Lösung“ — nach langen und reiflichen Überlegungen, Prüfungen und so weiter — für 1. September angekündigt.

„Furche“-Vorschlag entsprochen

Die Kritik an diesen Vorstellungen war ebenso berechtigt wie hart: Auch unter sozialdemokratischer Führung ist Österreich — vor allem im Bereich der Bildung — nicht jenes Schlaraffenland, welches es sich leisten kann, jährlich Millionen Schilling an Schulbüchern „wegzuwerfen“. Aber nicht nur diese groß-männische Verschwendungssucht, auch die Mißachtung bestehender Schülerladen, die unter großen Opfern von Elternvereinen und Gebietskörperschaften aufgebracht wurden und deren Buchbestände in Millionenwerten zum billigen Brennstoff geworden wären, waren Anlaß fundierter Kritik. Besonders letzterem Umstand widmete die „Furche“ breiten Raum (Nummer 5 vom 29. Jänner 1972: „Altpapier?“ — Nummer 17 vom 22. April 1972: „Nicht gerade sparsam...“) und nahm sich als einzige österreichische Zeitung dieses Problems auch an.

Nun: Unseren Bedenken hat Sinowatz mit seinem Vorschlag Nummer 3, den „rezeptpflichtigen Schulbüchern“, Rechnung getragen. Die nunmehrige Lösung soll darin bestehen, daß den Schülern für jedes Schulbuch ein Gutschein überreicht wird, der dann beim Buchhändler eingelöst werden kann. Die bestehenden Schülerladen werden im System dahingehend berücksichtigt, daß der Bund pro Buch, das direkt dem Schüler ins Eigentum übertragen wird, einen Ablösebetrag von 50 Prozent der seinerzeitigen Anschaffungskosten ledstet.

Am 7. Juni wurden diese Vorstellungen durch einen Initiativantrag der SPÖ im Parlament eingebracht. Da einen Monat später nicht nur für die Schüler, sondern auch für die Abgeordneten die Ferienzeit beginnt, steht die Behandlung des „Gratisschulbuches“ allerdings nun unter Zeitdruck.

„Schreibkräfte“

Nicht viel besser wird es allerdings den Lehrern gehen: Denn diese werden einstweilen, ohne dafür gesetzliche Unterlagen zu haben, durch ministerielle „Direktiven“ dazu angehalten, Bedarfsrechnungen für Schulbücher zu erstellen, damit sich die Schulbuchverlage auf den Massenansturm zu Schulbeginn einrichten können. Und gleich mit Schulbeginn vertauschen die Lehrer ihren Beruf auch wiederum: dann allerdings als Schreibkräfte.

Denn: damit der Schüler sein „Schulbuchrezept“ einlösen kann, muß der Lehrer zuerst einen „Rezeptzettel“ an die Schüler verteilen — wohlgemerkt: für jedes Buch einen eigenen. Dann sammelt er diese Zettel wieder ein und beginnt mit seiner — wenig pädagogischen — Arbeit: Jeder Rezeptgutschein ist mit dem Schulstempel und der Unterschrift zu versehen. Für den Klassenvorstand “bedeutet das: Bei einer Klasse mit 36 Schülern und durchschnittlich 10 Büchern 360mal zu stempeln und zu unterschreiben. Dabei muß er allerdings auch aufmerksam die Wünsche seiner Schüler lesen, denn für jeden Mißbrauch eines solchen Gutscheines haftet er dem Bund mit 5000 Schilling...

Sollte sich aber ein Direktor nicht dazu bewegen lassen, diese Aufgabe an die Klassenvorstände zu übertragen, so kann er selbst damit ausreichende Beschäftigung finden: Bei einer Anstalt mit 1000 Schülern macht das 10.000 Unterschriften und 10.000 Stempel. Man wird zu Schulbeginn durchaus auf Grund des Stempelgeräusches die Schulen mit Postämtern verwechseln können.

Wer aber glaubt, damit sei die — wie Minister Sinowatz „glaubhaft“ zu versichern verstand — „einfache“

Verwaltungsarbeit getan, hat sich geirrt: An jeder Schule sind nämlich darüber hinaus über jeden einzelnen Gutschein Aufzeichnungen zu führen, aus denen „die Empfänger der Schulbücher oder der Gutscheine hervorgehen“.

Somit rollen im kommenden Jahr 550 Millionen Schilling in die Kassen der Schulbuchverlage. Was allerdings die Verwaltung kostet, steht in den Sternen des Regierungshimmels. Und dort wird das „Gratisschulbuch“ überdies noch einiges Kopfzerbrechen bereiten. Denn: Woher wird dann das Geld genommen, wenn der Familienlastenausgleich einmal ausgeräumt ist?

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