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Das erste Gratisbuch

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Das erste Gratisschulbuch, das diesen Namen verdient, könnte es im Schuljahr 1982/83 durch ein schikanöses Approbationsverfahren geben.

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Das erste Gratisschulbuch, das diesen Namen verdient, könnte es im Schuljahr 1982/83 durch ein schikanöses Approbationsverfahren geben.

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In diesen Tagen erfolgt an Österreichs Schulen die Auswahl der Schulbücher für das kommende Schuljahr. Die Beschlüsse der Lehrerkonferenzen haben bis spätestens 29. Jänner, die Stellungnahmen der Elternvereine dazu bis spätestens 19. Weber zu erfolgen.

Bei 2232 Schulbuchtiteln (man rechnet heuer mit zwölf bis 13 Millionen Büchern im Wert von rund einer Milliarde Schilling im Rahmen der Schulbuchaktion) fällt diese Auswahl immer schwerer. Und nicht alles ist Gold, was auf der Schulbuchliste glänzt.

Für besondere Sorgfalt bei der Bestellung der Schulbücher plädieren mit einer „Blütenlese" aus gängigen Unterrichtsbehelfen fünf Wiener Vereinigungen mit christlicher Orientierung (Christliche Lehrerschaft Wiens, Landesverband Katholischer Elternvereine Wiens, Katholischer Familienverband der Erzdiözese Wien, Mittelschüler-Kartell-Verband, Katholische Aktion der Erzdiözese Wien) und wollen damit „eine permanente Verbesserung des Schulbuchangebotes erreichen".

Die „Blütenlese" und weitere Schulbuchinformationen sind beim Katholischen Familienverband der Erzdiözese Wien, 1010 Wien, Stephansplatz 6/V/17, erhältlich.

Erste Erfolge dieser kritischen Tätigkeit: Da gibt es ein Biologiebuch für die 1. AHS-Klasse, das Geschlechtsverkehr ausgerechnet im Zusammenhang mit Vergewaltigung nahebringt, und ein Buch der gleichen Autorengruppe für die 4. Hauptschulklasse, das die „Anti-Baby-Pille" über Gebühr verharmlost. Der Verlag hat in beiden Fällen Änderungen für die nächste Auflage versprochen.

Elf- bis Zwölfjährige (an AHS und Hauptschule) werden heutzutage mit solchen „Merksätzen" traktiert: „Die Subtraktion von Brüchen ist nur beschränkt ausführbar. Die Menge B ist bezüglich der Subtraktion nicht abgeschlossen. Die Subtraktion von Brüchen ist nicht kommutativ und nicht assoziativ."

„Die Multiplikation ist in der Menge B unbeschränkt ausführbar. Die Menge B ist bezüglich der Multiplikation abgeschlossen. Die Multiplikation ist kommutativ, assoziativ und bezüglich der Rechnungsarten 1. Stufe distributiv."

„Nach der Stiftsbesichtigung gehen sie in ein Gasthaus. Dort gibt es Mittagessen. Wolfi bekommt wieder einen großen Schluck Wein von seinem Papa. In Melk kehren sie auch im Stiftskeller ein. Und in Krems gibt's den Kremser Wein. Uberall darf Wolfi einen Schluck kosten." Soweit ein Lesebuch für die 3. Klasse Volksschule. Kommentar überflüssig.

Und ein Philosophie-Buch behauptet schließlich, die (katholische) Philosophie habe im Mittelalter gelehrt, die Geschlechtlichkeit sei „die Folge der Sünde. Die Seele ist zur Strafe im Leib."

Mit dem Ziel, den ideologisch oft bedenklichen gängigen Schulbüchern mit fachlich und pädagogisch einwandfreien Werken entgegenzutreten, ist vor einem Jahr die „Verlegergemeinschaft Neues Schulbuch" (VNS), bestehend aus mehreren katholischen Verlagen, mit zwei Werken und großem Erfolg angetreten.

Das Philosophiebuch von Arno Anzenbacher eroberte auf Anhieb vier Fünftel des Marktes, das Biologiebuch „Leben und Umwelt" von Manfred Driza und Georg Cholewa (für die 1. Klasse AHS) immerhin fast ein Drittel. Der Aufschrei in den Zentralen der eingesessenen Schulbuchverlage läßt sich vorstellen.

Nun ist aber der Folgeband von „Leben und Umwelt" für die 2. Klasse, auf den viele Biologielehrer aufgrund ausgezeichneter Erfahrungen mit dem ersten Band sehnsüchtig warten, ein Opfer des (zufällig heuer?), verschärften Approbationsverfahrens des Unterrichtsministeriums geworden.

Dort werden jährlich rund 300 Manuskripte eingereicht und von 66 Kommissionen begutachtet. Für die Begutachtung hat eine drei- bis fünfköpfige Kommission vier Monate Zeit. Unter jeweils voller Ausnützung dieser Frist wurde die Approbation für „Leben und Umwelt 2" zweimal verweigert und zweimal eine verbesserte Neuvorlage verlangt.

War es aber bisher üblich, bei so geringfügigen Mängeln, wie sie bei .JLieben und Umwelt 2" festgestellt wurden, die Approbation mit der Auflage, die Mängel bis zur Drucklegung zu verbessern, zu erteilen und das Buch in die Schulbuchliste aufzunehmen, so ist man heuer — so das Unterrichtsministerium — zu dieser Praxis nicht mehr bereit. Folglich ist „Leben und Umwelt 2" nicht auf der im Herbst erstellten Liste der 2232 Titel der Schulbuchakti-on.

Sollte, wie anzunehmen ist, das Buch demnächst approbiert werden, plant der Verlag einen bisher noch nie dagewesenen Schritt Es soll in mehreren tausend Exemplaren allen Beziehern des ersten Bandes rechtzeitig für das nächste Schuljahr zur Verfügung gestellt werden: das erste wahre Gratisschulbuch!

Gegen strenge Approbationsverfahren ist absolut nichts einzuwenden, doch wenn — wie hier — keine zweite Instanz existiert, gerät das Verfahren gefährlich in die Nähe einer Zensur. Außerdem befremdet, daß an einem einmal approbierten Schulbuch ohne Neuvorlage durchaus Veränderungen vorgenommen werden können.

Das wahre Urteil über ein Schulbuch geht letztlich wohl eher aus der Zahl der Bestellungen durch fachkundige Lehrer (unter Mitwirkung verantwortungsbewußter Elternvertreter) hervor.

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