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Kanalisierte Bildung?

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Vor einem Monat — am 8. November — gab Unterrichtsminister Sinowatz bekannt, daß bis spätestens 15. Dezember die Aktion Gratisschulbuch abgeschlossen sein wird. Heute kann davon allerdings keine Rede sein.

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Vor einem Monat — am 8. November — gab Unterrichtsminister Sinowatz bekannt, daß bis spätestens 15. Dezember die Aktion Gratisschulbuch abgeschlossen sein wird. Heute kann davon allerdings keine Rede sein.

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Heute fehlen immer noch 1,2 Millionen Schulbücher in den Schultaschen der Kinder. Freilich teilt nicht jeder das Los des Kapfenber-ger Vaters Lösch, dessen vier Kinder noch immer auf neun von 27 Schulbüchern warten. Nicht jeder teilt aber auch das Los von Unterrichtsminister Sinowatz, dessen Kinder — wie der Vater stolz dem Nationalrat berichtete — schon im Besitz der Atlanten sind. Ein besonderer Engpaß herrscht nämiidh bei Atlanten — und es ist nicht abzusehen, wann die Schüler mit diesem unbedingt notwendigen (und sehr teuren) Lehrbehelf arbeiten können.

Die Situation, die durch die Gratis-schulbuchaktion der Regierung geschaffen wurde, ist einer partnerschaftlichen Schule aber leider abträglich: die Schüler bringen kein Verständnis dafür auf, daß der Lehrer seitenweise diktiert, was sonst in den Büchern zu lesen steht. Den Eltern ergeht es nicht anders. Und die Lehrer haben keine andere Wahl.

Vier Monate nach Schulbeginn ist somit die Erfüllung des Lehrplans für das laufende Schuljahr ernstlich in Frage gestellt. Weit mehr als ein Drittel dieses Schuljahres ist für viele Schüler zu einem echten Problem geworden. So haben beispielsweise die Lehrplangestalter zwar den Lehrstoff der Mengenlehre in Mathematik neu aufgenommen, doch für die Schulbücher wurde keine Sorge getroffen. Fazit: Der Lehrplan, der bewältigt und dessen Bewältigung beurteilt werden soll, ist nicht erfüllbar.

Anders sieht es bei Liederbüchern der Pflichtschulen aus: In diesem Fall liegen zwar die Bücher aufgestapelt, es fehlen aber die Gutscheine, damit sie auch ausgefolgt werden können.

Nahezu grotesk verhält es sich bei den berufsbildenden höheren Schulen, wo überhaupt ein Großteil der erforderlichen Lehrbehelfe nicht erhältlich ist

Unterrichtsminister Sinowatz, der die Gratisaktion für Schulbücher als Erfolg wertet, hat — um die öffentliche Erregung über die Mißstände abzuschwächen — angekündigt, daß bereits im November — also im vergangenen Monat — an den Schulbüchern für das kommende Schuljahr gearbeitet werden Söll. Allein: Da noch immer an den Restexemplaren für das laufende Schuljahr gedruckt wird, scheint hier eine durch nichts motivierbare Fehleinschätzung der Situation vorzuliegen.

Fest steht aber auch, daß die Regierung mit der Schulbuchaktion ein finanzielles Abenteuer eingegangen ist: Unter der vorsichtigen — aber realistischen — Annahme, daß der Durchschnittspreis eines Schulbuches runde 80 Schilling beträgt, werden für die Schulbuchaktion fast eine Milliarde Schilling benötigt Der Ausgabenrahmen gegenüber dem Budgetvoranschlag wird damit aber um mindestens 400 Millionen Schilling überzogen werden.

Die einzigen, die trotz dem entstandenen Chaos ihre Schäfchen Im

Trockenen haben, sind die Schulbuchverlage: Ihr Umsatz war in den ersten vier Monaten des heurigen Schuljahres rund viermal so hoch wie im ganzen Vorjahr.

Trotz aller Vertröstungen und Absichtserklärungen von Regierungsseite weiß heute noch niemand genau, wie das Chaos im nächsten Jahr abgewendet werden soll. Denn zur diesjährigen Situation ist noch anzumerken, daß die Verwendung der Buchbestände aus den geschmähten Schülerladen ein noch größeres Debakel verhindert hat. Im nächsten Jahr ist aber auch diese „eiserne Reserve“ nicht mehr vorhanden.

Nur andeutungsweise wurde von der Erstellung von „Basislisten“ gesprochen: Auf den „Basislisten“ für Schulbücher, die sinnigerweise vom Finanzministerium erstellt werden sollen, sind jene Buchtitel berücksichtigt, die für das kommende Schuljahr vorbereitet werden. Vom Recht des Lehrers, das Lehrbuch selbst wählen zu können, wird damit ein gewaltiger Abstrich gemacht.

In den ,3asislisten“ lauert aber eine noch viel größere Gefahr: Die Gefahr nämlich, daß nur jene Bücher darauf aufscheinen, die dem Ministerium entsprechen — also auch der Regierung. Das hat sicherlich wenig Bedeutung für die Auswahl der Viathematikbücher, spätestens aber aei den Deutsch-, Geschichts- und Philosophiebüchern beginnt die Auslese problematisch zu werden.

Einer derartigen Kanalisierung der Bildung, die heute mit organisa-;ionsvereinfachenden Argumenten motiviert wird, sollte man aber keine Zustimmung geben. • Wenn man \eute eine solche Gefahr nicht im Keim erstickt, wird man sich morgen nit dem Hinweis abspeisen lassen müssen, „was wollt'«, is eh gratis“.

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