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Improvisation ist Trumpf

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Rund 33.000 mehr Schüler als im Vorjahr — das steht zu Schulbeginn 1972/73 fest. Nachdem schon am 4. September für den Osten Österreichs grelle Schulglocken die neue Lern- und Prüfzeit angekündigt haben, rückten am 11. September auch die Schüler der restlichen Bundesländer an. Zum letztenmal in dieser Reihenfolge, wenn man den Worten des obersten Schülerchefs, Unterrichtsminister Sinowatz, glaubt: Denn schon ab dem nächsten Schuljahr sollen die Sommerferien in ihrem Beginn und ihrem Ende gestaffelt werden.

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Rund 33.000 mehr Schüler als im Vorjahr — das steht zu Schulbeginn 1972/73 fest. Nachdem schon am 4. September für den Osten Österreichs grelle Schulglocken die neue Lern- und Prüfzeit angekündigt haben, rückten am 11. September auch die Schüler der restlichen Bundesländer an. Zum letztenmal in dieser Reihenfolge, wenn man den Worten des obersten Schülerchefs, Unterrichtsminister Sinowatz, glaubt: Denn schon ab dem nächsten Schuljahr sollen die Sommerferien in ihrem Beginn und ihrem Ende gestaffelt werden.

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Für 135.000 kleine Österreicher war heuer Premiere; ihr Schicksal ist aber ungewiß. Wer kann schon sagen, was die diesjährigen Abc-Schützen im Laufe ihrer Schullaufbahn durch die Schulreform erwartet? Werden sie überhaupt jene Bildungseinrichtungen besuchen können, die die Eltern fürsorglich für sie vorgesehen haben?

Nicht nur die Schulreform, auch die äußeren Umstände könnten so manchen Strich durch die Rechnung machen. Zwar wird vielen Schülern bald das erspart bleiben, was heuer noch 70.000 Schülern und deren Eltern Sorgen machte: Sie sind „gesaust“. Und das neue Schulunterrichtsgesetz — an dem seit 1969 gearbeitet wird — soll auch das Aufsteigen in eine höhere Schulstufe mit „Pinsch“ möglich machen. Nur mit drei Fünfern wird — wenn sich das Parlament zur Verabschiedung aufrafft — künftighin das Repetentenschicksal drohen, .mit zwei reicht es noch immer für eine Nachprüfung.

Der neue Schülerrekord, den das neue Schuljahr gebracht hat, wird allerdings getrübt: Denn es fehlen noch immer rund 9000 Lehrer an Volks- und Hauptschulen und 4500 an höheren Schulen. Ganz zu schweigen von der nach wie vor herrschenden Raumknappheit. Die vom Gesetzgeber vorgeschriebene Höchstzahl von 36 Schülern pro Klasse kann in der Mehrzahl der Fälle nicht eingehalten werden, weil der Gesetzgeber in wenig weiser Voraussicht nicht auch für den nötigen Schulraum gesorgt hat. Und jetzt soll sogar noch durch eine Baubremse das notwendige Aufholen des Fehlbestandes hinausgezögert werden.

Eine Premiere war für Schüler, Lehrer und Buchhändler auch die heuer erstmals laufende Schulbuch-aktion. Letztere können im Vergleich zum Vorjahr heuer mit siebzig Prozent mehr Umsatz rechnen. Für die Lehrer hat die Arbeit schon begonnen: Unter der vorsichtigen Annahme, daß das Handhaben eines Schulbuchrezeptes 1 Minute benötigt, kommen auf einen Klassenvorstand mit 30 Schülern, die in acht Gegenständen Bücher brauchen, 4 Stunden Arbeitszeit. Um die vom Unterrichtsministerium geforderte Klassenliste anzulegen, wird eine weitere halbe Stunde benötigt. Bei den rund 45.000 Schulklassen ergibt das insgesamt eine Arbeitszeit von 202.500 Stunden, das sind 25.312 Tage, wenn man eine tägliche Arbeitszeit von 8 Stunden annimmt, oder 69 Jahre. Damit aber der Amtsschimmel noch gehörig in Trab gehalten wird, muß ein Schulbuchrezept vom Drucker über Lehrer, Schüler und Buchhändler, bis es zur Verrechnung kommt, zehn Stellen durchlaufen.

Die Mühe der Arbeit wird aber schlecht belohnt: denn auch ein ordnungsgemäß ausgefüllter Gutschein bietet noch keine Gewähr, daß dann auch das Schulbuch zur Verfügung steht. Somit kann sich der Lehrer nochmals ärgern: Entgegen den Beteuerungen des Unterrichtsministeriums und der Schulbuchverlage kann man der Nachfrage nicht Herr werden. In der Praxis bedeutet das, daß vor allem dn Wien und Niederösterreich zwar Schulbuchgutscheine in Hülle und Fülle für jene Bücher vorhanden sind, die erst in einem Monat — oder sogar noch später — erst geliefert werden können, und für Bücher, die sich beim Buchhändler stapeln, noch keine Gutscheine ausgedruckt sind. Die Schüler sind von diesen Umständen eher „begeistert“: Für sie bedeutet das, daß noch für Wochen kein „ordentlicher“ Schulbetrieb herrscht. Wie soll der Lehrer Aufgaben geben, wenn beispielsweise die Hälfte der Klasse kein Lehrbuch besitzt? Die andere Hälfte konnte — um wieder ein Beispiel zu nehmen — durch die „gute, alte“ Schülerlade noch beteilt werden.

Aber auch andere Mängel sind aufgetreten: Was machen beispielsweise Schulen, an deren Ort keine Buchhandlungen sind, die auch Schulbuchschecks einlösen können? Ganz einfach: Der Lehrer muß aushelfen und aus der nächstgrößeren Gemeinde die Lehrbehelfe heranschleppen. Nur stellt sich dann meist wiederum heraus, daß der überraschend heimgesuchte Buchhändler nicht auf die zusätzliche Nachfrage vorbereitet war. Das bedeutet wiederum, daß er beim Verlag nachbestellen muß. Der aber wieder ist mit Nachbestellungen so eingedeckt, daß für die kleine Landschule keine Hoffnung auf Schulbücher besteht.

Somit hat das neue Schuljahr nicht nur mit einem Schülerrekord, sondern auch mit einem Chaos begonnen. Aus der vielgelobten — und bis ins Detail durchdachten — Aktion ist für die Schüler mehr oder minder unbeschwerte Schulzeit geworden. Gelingt es dem Lehrer nicht, daß er durch Improvisation über die Runden kommt, hat er kaum eine Chance, den Schülern zu ihrem Lernziel zu verhelfen. Denn ein Monat ohne Lernbehelf kann in der Endabrechnung sehr fehlen. Ob etwa deshalb der Gesetzgeber das Aufsteigen mit „Pinsch“ möglich machen will?

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