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DAS ZWEITE GESICHT

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Wien, du Stadt der Geselligkeit, wo beim Walzer die Paare sich finden, wo beim Heurigen nach spätestens einer halben Stunde jeder mit dir Bruderschaft trinkt: so oder ähnlich steht es in den Fremdenverkehrsprospekten. Und mit der Zeit haben wir uns selbst an dieses Spiegelbild gewöhnt.

Aber — und das wird oft vergessen — die Stadt an der Donau hat noch ein zweites Gesicht. Und dieses kann kalt und abweisend sein.

Im vergangenen’Monat verschickte das „Internationale Forum” 3000 Fragebogen an in Wien studierende Ausländer der verschiedensten Nationen, um die Eindrücke und Erfahrungen festzustellen, die von den Studenten bei ihrem Kontakt mit der österreichischen Bevölkerung gesammelt wurden. Das Ergebnis der Rundfrage ist bedrückend: Es besteht — mit wenigen Ausnahmen — so gut wie keine persönliche Beziehung zwischen beiden.

Von den 616 Beantwortungen entfällt der Hauptteil auf Araber (123), den zweiten Platz nehmen 116 Ungarn ein, dann folgen Deutsche, Griechen, Perser, Amerikaner, Südtiroler, Israelis usw. und an letzter Stelle die Polen (6).

Aus den Antworten geht hervor, daß es der Hälfte dieser Auslandsstudenten nicht gelungen ist, mit österreichischen Kollegen oder deren Familien in menschliche Beziehungen zu treten, obwohl manche der Befragten schon fünf Jahre in Wien studieren.

Versuche, vor allem der Oesterreichischen

Hochschülerschaft, die Ausflüge usw. veranstaltete, zeigten eine weitgehende Interesselosigkeit der Öesterreicher; es erschien meist “lediglich der Vertreter der Hochschülerschaft und — die Ausländer waren wieder unter sich.

Nur 142 der befragten Studenten konnten das Weihnachtsfest im Kreise von Oesterreichem feiern, 212 fuhren nach Hause. Die übrigen 262 waren am Heiligen Abend allein. Ein türkischer Pharmaziestudent schrieb, er sei die ganze Nacht allein spazieren gegangen.

Uebereinstimmend berichteten viele der Befragten, es sei ihnen bei den Oesterreichern eine förmliche „Angst vor dem Ausländer” aufgefallen. Dies bezieht sich vor allem auf Farbige (80 Prozent aller Zimmervermieter lehnen solche ab). Aber auch Türken und Südamerikaner müssen Bemerkungen hören wie „ ... ihr könnt jederzeit gehen, wir haben euch nicht eingeladen!”

Wer weiß: vielleicht ist unter diesen jungen Menschen, denen Wien nur sein zweites Gesicht zeigt, ein Hitler von 1970. Oder ein Mussolini, oder ein Stalin ... ?

Sie alle sind ja als junge Menschen durch dieselbe Stadt gegangen, die für sie nur aus heruntergelassenen Rollbalken bestand.

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