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Den Verlorenen auf die Spur gekommen

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Es gibt in Österreichs Kunstgeschichte immer poch eine Menge zu entdecken. Wer es nicht glaubt, sehe sich in der Wiener Galerie nächst Sankt Stephan um: „österreichische Avantgarde 1900 bis 1938“ wird dort als „unbekannter Aspekt“ vorgestellt. Und obwohl aus Geldmangel und wegen der enormen Versicherungsbeträge manches wichtige Spitzenwerk durch ein Photodokument ersetzt werden mußte, beweist die ungewöhnliche Schau, daß Österreichs und vor allem Wiens Kunstszene zwischen Jugendstil, Art dėco und neuer Sachlichkeit, mit Otto-Wagner-Schule, einem ganz spezifischen Kubismus und der frühen Neigung zum Abstrakten absolut nicht als provinziell klassifiziert werden darf. Daß das dennoch immer wieder passierte, ist eigentlich nur der Überbetonung expressionistischer und nachexpressionistischer Tendenzen zuzuschreiben.

Daß in der österreichischen Kunst der Moderne die Neigung zur Abstraktion schon sehr früh auftrat, beweisen Klimt, Schiele, Kolo Moser, Josef Hoffmann, die „Denker“ der Wiener Werkstätte, aber auch die Schüler Otto Wagners, bei denen faszinierende Abstraktionsversuche floraler Bauornamentik zu finden sind.

Neben diesen Leistungen entwik- kelte sich schließlich der Konstruktivismus wie der eigentlich exemplarische, aber hierzulande lange zu Unrecht völlig negierte Kinetismus der Schule Franz Cizeks (obwohl er neben Italiens Futurismus eigenständig besteht!). Dagegen kristallisierte sich wieder eine betont „malerische“ Richtung expressiver Prägung heraus: Vorläufer des Tachismus sind hier zu suchen, die sich durchaus nicht in die große Welle des Expressionismus ein- ordnen lassen, schließlich Ansätze, die zu jener kühlen neuen Sachlichkeit führen. Sie hat in Österreich allerdings nie den scharfen sozialkritischen Aspekt der deutschen Kunst erreicht

Man hat übrigens erst in den letzten Jahren viele dieser zum Teil hervorragenden Künstler „wiederentdeckt“: Lajos Kassak zum Beispiel, dessen konstruktivistische Experimente allerdings in Westeuropa viel mehr Aufsehen erregten, als in seiner ungarischen Heimat und in Wien; das Frühwerk Carry Hausers, die dynamisierten Gemälde eines Max Oppenheimer, den österreichischen Dadaisten Raoul Hausmann, der sich zum Pariser Dada schlug, wie die Wiener Architekten Kiesler und Schindler, den Wiener Bauhauskünstler und -lehrer Herbert Bayer, dessen Bilder in den letzten Jahren rapid an Bedeutung zum Verständnis der Kunst der zwanziger und dreißiger Jahre, wieder an Wert gewonnen haben, ferner den Farbtheo- retiker Johannes Itten…

Und das sind nur die Stars der Kunstszene von damals. Daneben gibt es eine Reihe phantasievoller wenig bekannter Eigenbrötler zu entdecken: Stolba mit seinen frühen Abstraktionen (von 1906!), Bechtolds Plastiken, Friedl Dickers meisterhafte Collagen. Wie man auch das Schaffen einer Erika Giovanna Klien und der anderen Mitglieder der Cizek-Kunstschule erst einmal genaueren Untersuchungen unterziehen müßte, um festzustellen, welches enorme Maß an phantasievoller Eigenständigkeit diese Jahrzehnte der österreichischen Kunst beschert haben.

Wir stehen da erst am Anfang. Mit Ausnahme von ein paar wichtigen Namen ist fast nichts auf seine Bedeutung hin untersucht worden, fast nichts wissenschaftlich aufgearbeitet, fast nirgends noch das ganze Feld reicher Beziehungen, eines erstaunlichen Wechsel- und Kräftespiels innerhalb der Zentren der Donaumonarchie, aufgedeckt worden. Eine lohnende Arbeit für Kunsthistoriker, Österreichs Avantgarde zwischen 1900 und 1938 auf die Spur zu kommen.

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