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Der Mann mit den vielen Namen

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Es gab in den letzten 70 Jahren Großungarns keine Feierlichkeiten, auf der nicht ein Festredner die Manen jenes genialen madjarischen Unabhängigkeitsverkünders angerufen hätte, dem nachzueifern mit nie verlöschender Leidenschaft gefordert wurde. Kossuth und Petöfi zu zitieren galt als Inbegriff patriotischen Verhaltens. Ja sogar noch in den Novembertagen des Jahres 1918, als das stolze Kriegsschiff „Viribus unitis” —- das die Großmacht Österreich-Ungarn verkörperte — in den Fluten der Adria versank, sahen die Unbelehrbaren im Untergang dieses Symbols der Herrschaft die Erfüllung des Vermächtnisses jener Männer aus den Revolutionstagen des März 1848, die sich den Aufstieg Ungarns nur vorstellen konnten, wenn Österreich restlos zertrümmert werde.

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Es gab in den letzten 70 Jahren Großungarns keine Feierlichkeiten, auf der nicht ein Festredner die Manen jenes genialen madjarischen Unabhängigkeitsverkünders angerufen hätte, dem nachzueifern mit nie verlöschender Leidenschaft gefordert wurde. Kossuth und Petöfi zu zitieren galt als Inbegriff patriotischen Verhaltens. Ja sogar noch in den Novembertagen des Jahres 1918, als das stolze Kriegsschiff „Viribus unitis” —- das die Großmacht Österreich-Ungarn verkörperte — in den Fluten der Adria versank, sahen die Unbelehrbaren im Untergang dieses Symbols der Herrschaft die Erfüllung des Vermächtnisses jener Männer aus den Revolutionstagen des März 1848, die sich den Aufstieg Ungarns nur vorstellen konnten, wenn Österreich restlos zertrümmert werde.

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Mit seinem 150. Geburtstag rückte die Persönlichkeit Alexander Petöfis in das Interesse der Literaturhistoriker. Petöfi kann als der erste ungarische Dichter angesehen, werden, der die Literatur seines Vaterlandes der Weltöffentlichkeit präsentierte. Seine Gedichte übersetzte Heinrich Melang ins Deutsche, der nach dem Urteil von Joseph Nadler „der beste Petöfi- Übersetzer” ist.

Alexander Petöfi, der am 1. Jänner 1823 in Kiskörös im Komitat Pesth geboren wurde, befreite nach dem Urteil der Fachleute die madja- rische Literatur vollständig von ausländischen Vorbildern. Er handhabte die madj arische Sprache, die nicht seine Muttersprache war, meisterhaft. In seiner beschwingten Lyrik erzählt er persönliche Erlebnisse, in seinem Werk spiegelt sich die madja- rische Volksseele. Petöfi verkörpert das madjarische Nationalgefühl am reinsten, er steigerte aber gleichzeitig auch den Chauvinismus ins Unermeßliche. Er forderte die Nationalitäten Ungarns zum Widerstand heraus, und es ist durchaus keine Übertreibung, wenn man Petöfi zu den Totengräbern Ungarns zählt.

Woher kam nun jener Petöfi, der im Vormärz zwar nicht mehr der privilegierten Klasse angehörte, aber dennoch zum Abgott der Nation wurde? Im Knabenalter nannte er sich nach Petrovich. Der Adelstitel, den seine serbischen Vorfahren vom Kaiser Leopold I. 1688 erhalten hatten, war längst verfallen. Alexander Petrovichs Eltern fristeten ihr Leben aus dem Ertrag einer Fleischhauerei, seine Mutter nannte sich mit ihrem Mädchennamen Hruz und war Slowakin.

Der sehr aufgeweckte, aber auch sehr undisziplinierte Knabe Alexander wanderte von Schule zu Schule, was aber auch damit Zusammenhängen dürfte, daß er — bar jeder Unterstützung durch die Eltern, die ihr erworbenes Vermögen verloren hatten — fast auf sich selbst gestellt war. Einer seiner Professoren, der dem Panslawismus huldigende Li- chardus, ließ den zukünftigen Stern der Dichter aus ungarischer Geschichte durchfallen, was auch dazu beigetragen haben dürfte, daß sich Petrovich gegen die Schuldisziplin auflehnte. Auch das Einvernehmen mit dem Elternhaus war nicht gut, er mied es.

Seine Mißerfolge verleiteten ihn zu einer pessimistischen Lebenseinstellung. Er selbst bezeichnet sich in einem Gedicht als Strolch (csavargo vagyok ėn — ich bin ein Strolch). Man kann annehmen, daß Petrovich wegen seiner psychischen, aber auch wegen seiner materiellen Lage einen Schritt nach dem spätchristlichen Sprichwort unternahm: „Militum aut monachum facit desperatio” — Mönch oder Soldat wird man aus Verzweiflung. Die Kaserne hielt er nicht für die schlechteste Wohnung, und daß er im Schilderhaus dichtete, sei nebenbei verraten. Der Sechzehnjährige trat am 6. September 1839 in Ödenburg in das 48. Linienregiment ein, das als k. u. k. Infanterieregiment Nr. 48 in die Militärgeschichte einging. Das Regiment wurde nach Graz verlegt, was dem jungen Regimentsangehörigen, der die deutsche Sprache erstaunlicherweise in Wort und Schrift beherrschte, Vorteile brachte. Krankheitshalber schied er nach zweijähriger Militärdienstzeit am 28. Februar 1841 aus. Erstaunlich ist es ebenso, daß sich

Petrovich der strengen Zucht eines Korporals unterwarf, da er doch jede Autorität ablehnte.

In die Heimat zurückgekehrt, erschien sein Gedicht „Im Vaterland” (hazämban). Von nun an nannte er sich Petöfi. Er durchwanderte Ungarn nicht nur in seiner Studentenzeit, sondern auch als’ Mitglied einer Wanderschauspielergruppe, die aber den Charakter einer Eintagsfliege trug. In dieser Runde führte er auch die Namen Borostyän, Rimai und etliche andere. Endlich fand Petöfi in Pesth als Journalist eine Beschäftigung, aber wieder nur von kurzer Dauer. Als die Nachricht von den Wiener Märzereignissen in Pesth einlangte, wurde von jungen Extremisten, Schriftstellern und von der Universitätsjugend unter Führung Petöfis die Pressefreiheit proklamiert. Sie bestimmten den Gang der Geschehnisse in Pesth. Mit seinem Gedicht „Talpra magyar (Auf, auf Magyaren) goß er öl in das Feuer der

Revolution. Dieses Gedicht ist die erste zensurfreie Publikation von 1848. Seine Feder steht von nun an fast nur im Dienste der Revolution.

Der Gesetzesartikel V ex 1848 schuf die Möglichkeit, allgemeine Wahlen für die Volksvertretung auszuschreiben. Petöfi legte der Wahl größte Bedeutung bei und bewarb sich um ein Mandat. Er stürzte sich in den Wahlkampf, er erließ Proklamationen und seine Freunde machten für ihn Propaganda. Er besuchte die Wähler und wurde überall enthusiastisch gefeiert, so daß es den Anschein hatte, er werde aus dem Wahlkampf siegreich hervorgehen. Sonderbarerweise trat ein Umschwung zu seinen Ungunsten ein. Es hieß, er sei kein einheimischer Bürger, einige seiner Äußerungen, die heute als kommunistisches Gedankengut gewertet werden können, schreckten die Wähler ab. Vielleicht hatte auch sein bisheriger unsteter Lebenswandel den Wählern zuwenig

Garantie geboten, daß er sein Mandat pflichtgemäß ausüben würde. Auch die Abstammung Petöfis — sie war nicht standesgemäß — brachte ihn bei den Wählern in Mißkredit. Es wurde ein unschöner Kampf gegen ihn geführt und auch das Gerücht verbreitet, daß er ein russischer Spion sei, der die Übergabe der Slowakei an Rußland befürworte. Die Behörden rieten ihm, sich im Wahlkampf nicht mehr zu zeigen, da man ihm keine persönliche Sicherheit bieten könne. Gewählt wurde er nicht, eine im Parlament erhobene Beschwerde blieb ergebnislos.

Die radikalen Elemente im Lande waren mit dem in den Märztagen Erreichten nicht zufrieden, sie trieben die Revolution weiter. Es wurde eine nationale Armee, die Honvėds (Landwehr) geschaffen. Man konnte voraussehen, daß es zu einem Zusammenstoß zwischen der kaiserlichen und der nur noch scheinbar dynastietreuen Nationalarmee kommen werde. Der Einmarsch der Grenztruppen des Generals Jellachich rief in Ungarn nationalen Widerstand hervor. Petöfi. feierte in seinem Gedicht „Der alte Fahnenträger” seinen Vater. Dieser schloß sich der Revolutionsarmee an und marschierte gegen seine slawischen Stammesgenossen. Nun entwickelte sich Petöfi immer mehr zu einem radikalen Revolutionär. Mit seinem Gedicht „Hängt die Könige” bekannte sich Petöfi zum Jakobinismus, zum Terror. Es nimmt nicht wunder, wenn sich für den Verkünder solcher Ideale ein Win- dischgrraetz und ein Haynau interessierten. In dem gegen ihn erlassenen Steckbrief wird als besonderes Kennzeichen angegeben, daß er stets mit entblößtem Hals zu gehen pflege.

In Siebenbürgen kommandierte die Revolutionsarmee General Bern, ein Pole, der schon 1830 in der Insurrektion mitgefochten hatte. In den Oktobertagen 1848 war er in Wien die Seele des Widerstandes, er floh rechtzeitig. Zu Bern eilte Petöfi als Hauptmann, er bereitete seinem General wegen seiner Disziplinlosigkeit mehr Ärger als Freude. Petöfi hatte außerdem einen heftigen Zusammenstoß mit dem Kriegsminister Mėszaros. Die unerquickliche Situation wurde dadurch beendet, daß Petöfi seine Charge niederlegte, er dachte damals sogar an eine Auswanderung.

Rußland konnte sich mit dem Aufstand in Ungarn nicht befreunden, standen doch über tausend Polen in der Revolutionsarmee. Ein Erfolg in Ungarn hätte die Polen ebenfalls zu einem Aufstand verleiten können. Zum letztenmal erwies die Heilige Allianz ihre Wirksamkeit, als der Zar eingriff und Kosaken nach Ungarn entsandte; 107 Jahre später sandte Chruschtschow in ähnlicher Situation Tanks …

Der Einmarsch Rußlands in Ungarn wurde von der Regierung Kossuth mit einer Totalmobilisierung der nationalen Propaganda beantwortet. „Dichter an die Front”, war die Devise. Mit ihrer Hilfe sollte die Kampfmoral gehoben werden. Petöfi ging abermals zu Bern, diesmal im Rang eines Majors. Die alten Gegensätze wurden angesichts der trostlosen militärischen Lage begraben.

Die denkwürdige Schlacht zwischen Berns Heer und den Russen fand am 31. Juli 1849 5 km von Schäßburg entfernt in Weißenkirchen (ungarisch Feheregyhäza, heute rumänisch Al- besti) statt, dort wurde Petöfi angeblich zuletzt gesehen, ohne Uniform, ohne Waffe und ohne Pferd. Sein Tod ist nie eindeutig geklärt worden, weshalb sich ein Kranz von Legenden bildete.

Dozent Dr. Johann Weidlein veröffentlichte in den „Südastdeutschen Vierteljahresblättem”, 23. Jahrgang, 1974, Folge 3 auf Seite 202 einen an ihn gerichteten Brief eines Ingenieurs Johann Stadthammer, der bis 1944 in der Nähe von Budapest wohnte, jetzt in Los Angeles lebt. Dieser war Angehöriger des k. u. k. Infanterieregiments Nr. 43 und geriet im November 1914 in russische Kriegsgefangenschaft. In Gefangenenlager Krasnojarsk im mittleren Sibirien wurde er von Soldaten aus der Umgebung von Jenis- seisk bewacht, die zum Teile madjarische Namen trugen, was ihm auffiel. Ihre Großväter sollen Kriegsgefangene gewesen sein, die im Jahre 1848 hieher gebracht und angesiedelt wurden. Ing. Stadthammer erinnert sich an zwei madjarische Namen, Ju- häsz und Kertesz. Nach Aussagen der letzteren hätten sie von ihren Großvätern gehört, daß unter den Kriegsgefangenen auch Petöfi gewesen sei. Nach dieser Version müßte Petöfi in Rußland gestorben sein.

Eine andere Darstellung: Der mir persönlich bekannte Arzt Dr. Remus Doctor, in Bukarest wohnhaft — er studierte vor dem Ersten Weltkrieg in Wien Medizin —, übergab mir eine schriftliche Information, die von den bisherigen Legenden um den Tod Petöfis abweicht. In der Nähe dės historischen Schlachtfeldes liegt die Gemeinde Vinatori (ungarisch Hej- jasfalva), in der Dr. Remus Döctor geboren wurde und seine Jugendzeit bis zur Matura verlebte. Er ist somit nicht nur mit der Toponomie des Schlachtfeldes, sondern mit der Umgebung bestens vertraut, weshalb sėinėn Ausführungen besondere Aufmerksamkeit zu schenken ist. Doktor med. Doctor beruft sich auf einen alten Studienfreund, dessen Vater zu den wenigen Vertrauten zählte, die über das Geheimnis von Petöfis Tod informiert waren. Darnach unterhielt Petöfi zu der Tochter des madjarischen Pfarrers in Szekely-Keresztur (Cristur) freundschaftliche Beziehungen. Am 30. Juli 1849 abends weilte, Petöfl im Pfarrhaus, er beabsichtigte die Nacht dort zu verbringen und bezog auch das ihm vom Pfarrer zugewiesene Zimmer. Später bemerkte der Pfarrer die Abwesenheit seiner Tochter, er fand sie in einer Laube in Umarmung mit Petöfi. Der empörte Vater erschoß Petöfl und begrub ihn gemeinsam mit dem Küster im Pfarrgarten.

In den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts beauftragte die ungarische Regierung eine Kommission, die nach dem Grabe Petöfis forschen sollte. Im Massengrab mit 42 Gefallenen in Albesti (Weißenkirchen, Feheregyhäza) suchte die Kommission vergebens. Ein besonderes Kennzeichen seines Schädels, die Anomalie der Oberkieferzähne, hätte bei der Untersuchung der Exhumierten auffallen müssen. Auch eine Investigation in Cristur verlief negativ.

Die Phantasie über Petöfis Tod aber blühte weiter. Es hieß dann, der Arzt Dr. Reichenberger aus Baläsz- falva (Blasendorf, rumänisch Blaj) hätte die Leiche Petöfis auf dem Schlachtfeld gefunden, den Kopf abgetrennt und mit sich genommen. Darüber empört sich Dr. Remus Doctor und meint: „Kann man sich vorstellen, daß ein Arzt eine solche Schandtat begehen kann?”

Dr. Doctor berichtet weiter, daß er Mitte Oktober 1974 die Ortschaft Cristur aufgesucht und den Grabstein Petöfis gefunden habe. Am Grabstein stehe: „Petöfl 1849, jul. 31.” und unterhalb 1902, Okt. 25,” Das Jahr 1902 hat die Bewandtnis, daß Petöfi aus dem Pfarrgarten exhumiert und im Friedhof.bestattet wurde.

Abschließend schreibt Dr; Doctor: „Diese Begebenheit (Beisetzung) ist den Dorfbewohnern bekannt, ich konnte mit einigen darüber reden. Es dürften viele Beweggründe bestanden haben, welche zur Verschleierung dieser Umstände zur Zeit der ungarischen Herrschaft geführt haben.”

Soweit die Information. Es drängt sich die Frage auf, weshalb Petöfl, wenn er sich wirklich in Sibirien aufgehalten haben soll, nicht heimgekehrt ist Haben die Emigranten, wie Pulszky, Kossuth und Andrässy, die vor und nach 1867 internationale Verbindungen gehabt haben, nie erfahren, daß Petöfl in Sibirien gelebt haben soll? Und wird es jemals gelingen, überzeugend aufzuklären, unter welchen Umständen Petöfi gestorben ist?

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