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Der Mensch als Tauschobjekt

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Der in der Sowjetunion zu 13 Jahren Haft verurteilte Regimekritiker Anatol Schtscharanski könnte bereits demnächst Gegenstand eines spektakulären Menschenhandels zwischen Ost und West werden. Sowjet-Dissident gegen im Westen inhaftierten Ost-Spion. Unausweichlich stellt sich nun die Frage: Ist ein solcher Menschenhandel als Fortschritt in den humanitären Beziehungen zwischen Ost und West oder als aufreizender Zynismus gegenüber den Menschenrechts-Dokumenten von Helsinki zu sehen?

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Der in der Sowjetunion zu 13 Jahren Haft verurteilte Regimekritiker Anatol Schtscharanski könnte bereits demnächst Gegenstand eines spektakulären Menschenhandels zwischen Ost und West werden. Sowjet-Dissident gegen im Westen inhaftierten Ost-Spion. Unausweichlich stellt sich nun die Frage: Ist ein solcher Menschenhandel als Fortschritt in den humanitären Beziehungen zwischen Ost und West oder als aufreizender Zynismus gegenüber den Menschenrechts-Dokumenten von Helsinki zu sehen?

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Vor den Augen der Weltöffentlichkeit weitgehend verborgen, begann sich der merkwürdige Menschenhandel zwischen Ost und West bereits zum Höhepunkt des kalten Krieges zu entfalten. Den Grundstein für den Handel legten clevere Berliner Anwälte, deren Kanzleien nur wenige Kilometer voneinander entfernt, allerdings durch die denkwürdige Berliner Mauer getrennt sind: Wolfgang Vogel (DDR) und Jürgen Stange (Berlin-West).

Die Zusammenarbeit der beiden Anwälte, die der französische Journalist Michel Meyer in seinem aufsehenerregenden Buch „Freikauf1 ausführlich beschreibt, hat den Eisernen Vorhang für politische Häftlinge seit dem Beginn der sechziger Jahre durchlässiger werden lassen. Der Menschenhandel, dessen neueste Blüte Schtscharanski gegen Guillaume heißen könnte, wird in den verschiedensten Spielarten betrieben:

• Ursprünglich stand der Freikauf von in der DDR inhaftierten Deutschen (politische Häftlinge der DDR, aber auch westliche Fluchthelfer und Spione) im Vordergrund. Die Gegenleistung aus Bonn kam entweder bar in der westdeutschen Wunderwährung D-Mark oder in Form von Naturalien - Südfrüchte bis Medikamente. Der Kopf eines Häftlings wird in diesem Handel mit Preisen von 30.000 (einfacher Arbeiter) bis 160.000 D-Mark (Ärzte und andere Akademiker, je nach Ansehen und sozialem Niveau) taxiert. Der Freikauf kam 1963 auf, wobei der damalige Minister für gesamtdeutsche Fragen, Rainer Barzel, Pate stand.

• Der direkte Austausch Mensch gegen Mensch feierte spätestens im Februar 1962 Premiere: Der über Swerd- lowsk abgeschossene und als Spion verurteüte U-2-Pilot Gary Powers aus den USA und der im Westen gefaßte Meisterspion Rudolf Abel liefen auf der Glieniker Brücke in Berlin aus verschiedenen Richtungen auf den Grenzstrich zu. Wie in einem schlechten Krimi.

• Seither bedient sich die UdSSR fast regelmäßig der innerdeutschen Beziehungen, um im Westen inhaftierte Spione freizubekommen. Die USA nutzen den Handelsweg in der Gegenrichtung. So wurden eines Tages jene Mitglieder des US-Kommandos freigekauft, die bei der mißglückten Operation in der Schweinebucht gefangengenommen worden waren. So wurde der in Bonn entlarvte Sowjet- Spion Heinz Felfe gegen 21 im Osten verhaftete Agenten und 80 politische Gefangene ausgetauscht. Alfred Fren- zel, SPD-Abgeordneter und Agent des tschechischen Geheimdienstes pas sierte im Austausch gegen einen westlichen Spion den Eisernen Vorhang.

• In letzter Zeit entwickeln sich die Aktionen zu komplizierten Dreiecksgeschäften, bei denen neben den Berliner Anwälten auch amerikanische Kongreßabgeordnete, Rabbiner und alle möglichen Geschäftemacher mitmischen wollen. So war es beim Austausch des sowjetischen Schriftstellers Wladimir Bukowski, der im Gegenzug zur Freilassung des chilenischen KP- Führers Luis Corvalan im Dezember 1976 die UdSSR verlassen durfte. Noch komplizierter war der Austausch des Sowjetspions Robert Thompson gegen den im Osten als Fluchthelfer erwischten amerikanischen Studenten Alan van Norman: Gleichzeitig kam auch ein israelischer Pilot aus Moęam- bique und ein CIA-Agent aus Kuba frei.

Allen diesen Aktionen haftet freilich ein schaler Beigeschmack an: Einerseits, weil die „Politischen” in diesem Menschenhandel mit Spionen und Agenten auf die selbe Stufe gestellt werden. Ja ist es nicht gerade ein Akt der Verhöhnung des Westens, wenn nun ein Regimekritiker, der nur nach der einsamen Meinung des Ostens ein Spion ist, ausgerechnet gegen einen wirklichen Spion eingetauscht werden soll?

Doch angesichts der harten Realitäten diesseits und jenseits des Eisernen Vorhanges ist anscheinand auch nach Helsinki noch kein Platz für Moral und Menschenwürde. Daraus macht auch der in Westberlin ansäßige Kontakt- Anwalt Jürgen’ Stange im Gespräch mit dem Journalisten Michel Mayer kein Hehl:

„Dieses Verfahren hat mit Moral nichts zu tun. Das mag tatsächlich an die Zeiten erinnern, in denen Sultane einander gegenseitig Sklaven verkauft haben … Aber in unserem Bereich führt Philosophieren zu nichts und vor allem nicht dazu, die Leiden der Männer, Frauen und Kinder zu erleichtern, denen wir helfen.” (FREIKAUF - Menschenhandel in Deutschland, Paul Zsolnay Verlag, 1978, 224 Seiten, öS 190,-).

Inmitten dieser brutalen Lebenspraxis dürfte es für Schtscharanski oder Alexander Ginsburg wohl keine erstrangige Frage sein, ob ihre Menschenwürde eher durch einen Austausch gegen die in den USA einsitzenden Spione Enger und Tschema- jew oder den in Deutschland inhaftierten Kanzleramts-Spion Günter Guillaume verletzt werde. Wer wollte es ihnen übel nehmen, wenn uneingeschränkte Freiheit in ihren Augen als das höchste Gut erscheint?

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