7223596-1993_38_06.jpg
Digital In Arbeit

Der soziale Konsens wackelt

19451960198020002020

Die Altenbetreuung in Vorarlberg war Vorbild bei der Einführung des neuen Bundes-Pflegegel-des. Indessen wackelt bei dem westlichen Musterschüler der soziale Konsens über die Kosten der hohen Standards.

19451960198020002020

Die Altenbetreuung in Vorarlberg war Vorbild bei der Einführung des neuen Bundes-Pflegegel-des. Indessen wackelt bei dem westlichen Musterschüler der soziale Konsens über die Kosten der hohen Standards.

Werbung
Werbung
Werbung

Die Freude der Lustenauer währte kurz. Kaum glaubten sie, sich mit der Renovierung ihres Altenheimes eine kleine Bettenreserve für die Zukunft verschafft zu haben, kam auch schon das - noch inoffizielle - Veto vom Land: Die frisch geweißten Doppelzimmer dürften höchstens einfach belegt werden. Sozial-LandesratHans Peter Bischof hat sich eine Vollversorgung mit Einbettzimmern zum Ziel gesetzt und daher „sofort scharfen Protest eingelegt". Und schon waren statt 18 nur mehr neun Betten zu Verfügung.

Ob Bischof übertreibt oder einfach weiter denkt: seine Ressortkollegen in den anderen Bundesländern wünschten sich wahrscheinlich, auf diesem hohen Niveau erst einmal streiten zu können. Denn ihr Nachholbedarf ist gewaltig:

□ So betreuen in Vorarlberg 100 diplomierte Krankenschwestern pflegebedürftige Menschen zu Hause und halten teure Heimbetten frei. Im viermal so großen Wien sind es etwa gleichviel.

□ Die durchschnittliche Heimgröße liegt hinter dem Arlberg bei überschaubaren 30 Betten, in Nieder-österreich etwa sind es familiäre 140.

□ 73 Prozent aller Heimbewohner in Vorarlberg sind bereits in Einbettzimmern untergebracht. Im übrigen Österreich müssen sich mindestens sieben von zehn Pflegebedürftigen ihren Lebensabend mit Zimmerkollegen teilen (FURCHE 30/1993).

Vor altem: In Vorarlberg gilt bereits seit 1990 eine ähnliche Form des seit Juli nun auch österreichweit eingeführten Bundespflegegeldgesetzes (BPGG). Abgestuft nach Schwere der Behinderung und unabhängig vom Verdienst gab es bis zu 15.000 Schilling im Monat zur Abdeckung der anfallenden Pflegekosten (BPGG: bis zu 20.000).

Daß Österreichs westlichstes Bundesland der Entwicklung schon um Jahre voraus ist, liegt zu nicht geringen Teilen an dessen kleinräumiger Struktur: „Bei uns zieht niemand auch nur in den nächsten Ort, schon gar nicht die Alten", gibt Elisabeth Ruepp, Vorsitzende der ARGE Altersheimleiter des Krankenpflegeverbandes, einen Einblick in die ethnologischen Spezifika, die schon früh zu kleinen, lokalen Pflegeeinheiten führten.

Wirtschaftlich ging es den Vorarlbergern zudem lange Zeit gut genug, um die Altenheime sogar den teuren, aber fortschrittlicheren Standards aus dem Krankenanstaltengesetz zu unterwerfen.

Der größte Bonus des Landes ist allerdings der traditionelle Krankenpflegeverband. Rund 80 Prozent der Bevölkerung finanzieren über geringe Mitgliedsbeiträge eine häusliche Altenbetreuung, die teure Heime erspart. Die Geldmittel konnten daher schon früh eher in die Qualität als in die Quantität der Pflege investiert werden. Der soziale Konsens darüber war bisher weitgehend gesichert, weil „das Thema auf diese Weise schon über 85 Jahre in der Bevölkerung präsent ist", diagnostoziert Christoph jochum, Pflegeexperte und Berater der Stadt Feldkirch.

Doch während das Vorarlberger Modell noch als Vorlage für das BPGG und einen möglichen Österreich-Standard gilt, treten im Westen Alterserscheinungen auf. Die Krankenpflegevereine leiden an „sklerotischen Erscheinungen, besonders in den Städten", bringt Experte Jochum etwa schwindende Mitgliedszahlen und sinkende Solidarität in der Be-

völkerung griffig in Zusammenhang. Und damit ist ein Eckpfeiler der Altenbetreuung massiv gefährdet.

Erstmals regt sich aber auch Widerstand gegen die hohen, von Land vorgegebenen Standards in den Heimen. Willi Oberfrank, Leiter des Sozialamtes der eingangs erwähnten Stadt Lustenau dazu: „Kann sich die öffentliche Hand das noch lange leisten?" Er möchte jedenfalls auf die Doppelbelegung seiner neu renovierten Zweibettzimmer bestehen: „Wir sind ziemlich bös auf die Landesregierung und werden gegen anderslautende Bescheide auf jeden Fall berufen."

Nicht nur Lustenau denkt so. Der steigende wirtschaftliche Druck auf die Gemeinden bringt viele in Versuchung, den scheinbar billigeren Weg der Zentralisierung zu beschreiten. Unternehmensberater Jochum mußte etwa vor kurzem der Stadt Feldkirch klitzeklein vorrechnen, daß die klein-räumige, dezentrale Organisation der Altenbetreuung langfristig doch billiger kommt. Er konnte es. Statt mit einem Großheim für die benötigten 100 Betten den Fehler anderer Bundesländer zu wiederholen, baut die Stadt nun doch sechs multifunktionale Kleinzentren, die Kostenersparnis beträgt laut Jochum bis zu 100 Millionen Schilling.

Durch die kleinräumige Verankerung könnten sowohl die ehrenamtliche Arbeit vieler Organisationen „mitgenommen", als auch die ambulante Betreuung und Vorsorge forciert werden, kalkuliert Jochum. Beides spart Kosten. Den Bettenbedarf für die statistisch üblichen 6,5 Prozent der über 65jährigen hofft man so auf vier Prozent drücken zu können.

Falls das für das übrige Österreich so neue BPGG sich nicht noch als Rückschritt für die vorauseilenden

Vorarlberger erweist. Viele befürchten, daß die neuen Bestimmungen den Zulauf zur stationären Altenpflege wieder erhöhen wird. Vorarlberg hatte nämlich seine Version des Pflegegeldes nur der Hauspflege zugestanden und damit den Andrang auf die Altenheime merklich reduziert.

Statt dem Vorbild zu folgen, hat Sozialminister Josef Hesoun allerdings auch den Heimbewohnern das Recht auf Pflegegeld zugesprochen - und damit einen Wunsch der Länder erfüllt. Deren Begehren ist zwar ver-

ständlich, weil 80 Prozent des Geldes den - meist kommunalen - Heimträgern zugute kommen. Es konterkariert aber die Intention des Gesetzes, die Pflege zu Hause finanziell zu erleichtern.

„Der Ruf nach der stationären Unterbringung wird weit schneller erfolgen, wenn auch hier der finanzielle Anreiz gegeben ist", fürchtet der Lustenauer Oberfrank. Seinen Tagsatz wird er jedenfalls auf - allerdings immer noch konkurrenzlos günstige - knappe 1.000 Schilling erhöhen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung