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Der umgestülpte Mythos

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War Rudolf die Hoffnung des Habsburgerreiches, der ersehnte Befreier, der verhinderte Wegbereiter einer lichtvollen Zukunft, das Opfer eines starrköpfigen Vaters, der klerikalen Reaktion?

Kronprinz Rudolf war — Wissende wußten es längst — in Wirklichkeit ein genialischer, innerlich zerrissener, sehr labiler junger Mann, dem allerdings die Gabe der persönlichen Faszination zu eigen war wie fast allen Angehörigen seines Stammes. Ein schwungvoller Agnostiker und verbitterter Genießer, verbündet mit der liberalen Plutokratie, die zu seiner Zeit bereits geschlagen und im Abtreten begriffen war, während die große Politik mit den jungen, neu auf den Plan getretenen Kräften der Sozialdemokratie, der „Völkischen“ und der Christliohsozialen zu rechnen hatte. Rudolf wäre, umstellt von liberalen ungarischen Adeligen und von liberalen österreichischen Großbürgern, gewiß nicht imstande geEmil Franzel iSHHHi

wesen, die Sozialgesetzgebung der achtziger und neunziger Jahre gegen den Willen der ihm befreundeten Oligarchen zu fördern, wie es, im Gegenteil, sein Vater, der „Genosse Franz Joseph“, tat; Rudolf hätte wohl kaum, wie Franz Joseph im Jahre 1907, alle volljährigen Mitglieder seines Hauses telegraphisch nach Wien befohlen, um im Herrenhaus des Parlaments Grund- und Aktienbesitzer niederzustimmen und das freie, allgemeine, gleiche und geheime Wahlrecht durchzusetzen; Rudolf hätte wohl kaum, wie Franz Ferdinand, die kommenden geistigen Potenzen des aufbrechenden 20. Jahrhunderts erkannt und im Belvedere um sich geschart; und

Rudolf wäre wohl kaum, wie ein Kaiser Karl, imstande gewesen, sein Leben dem Frieden der Völker zu opfern.

Rudolf war, durchschaut man all jene Mythen und Legenden, die sein Wesen ins Gegenteil verkehrten, in Wahrheit der Reaktionär, der Mann, der zur hochliberalen Mitte des 19. Jahrhunderts zurückstrebte, während Franz Joseph, wie jeder echte Konservative, den eigentlichen Instinkt für das Kommende hatte. Rudolf besaß keinen Instinkt, nur Geist.

Der uralte Instinkt seiner Sippe flackerte erst in seiner Tochter (glücklicherweise war es kein Sohn!) wieder auf. Sie, die Erzherzogin Erzsi, wußte bei all ihren Exzentrizitäten doch wenigstens, was die Stunde geschlagen hatte, als sie nach ihrer gescheiterten Ehe mit dem Fürsten Windischgraetz im Jahre 1919 den sozialdemokratischen Abgeordneten Petznek heiratete, weil er Geist und ein Zukunftspro-gramm hatte. Elisabeth Petznek blieb faszinierend bis in ihr hohes Alter und wußte Besucher, auch Parteigenossen, auf Distanz zu halten. Verstand man es, in die Konversation einige zynische Bonmots einzustreuen, hatte man bei ihr gewonnen. Den persönlichen Nachlaß des Kronprinzen schenkte sie dem Staat und der Gemeinde Wien. Mesalliancen in ihrer Verwandtschaft fand sie „unglaublich“...

Vor Jahren hat Emil Franzel die Ergebnisse der ernstzunehmenden Forschung benützt, um einen längeren Essay über den Kronprinzenmythos an Hand des Rudolf-Beispiels zu verfassen. Seine Überlegungen und Deutungen fanden sich durch alles, was seither noch zutage trat, immer nur bestätigt, so auch die Vermutung, daß der seelische Zusammenbruch Rudolfs, seine unqualiflzierbare Tat von Mayerling, diese Mischung aus Verbrechen, sentimentalem Kitsch, morbider Leichtfertigkeit und barockem Schauerdrama, nicht wenig mit einer venerischen Erkrankung des Kronprinzen und ihren damals unabsehbaren Folgen zu tun gehabt habe.

Doch dürfte Franzel weniger auf die Entlarvung des Mythos und auf die Säuberung der Tatsachen von Kitsch und Propaganda abzielen, als vielmehr auf eine Durchleuchtung des großen habsburgischen Dramas im allgemeinen, in welchem es dem Herrn der Geschichte darauf anzukommen scheint, „alle irgend erdenklichen Gesetzlichkeiten und Zufälle menschlicher Existenz durchzuspielen“.

Weil das Publikum fast immer

anders entscheidet als die von ihm gewählten Politiker und die von ihm bezahlten Kritiker, erzielte das Buch des Buhmanns Franzel, obwohl es gängige Legenden zerstört, einen beachtlichen Erfolg. Der Autor hat die neue Auflage mit den jüngsten Ergebnissen der Forschung ergänzt und der Verlag hat einige bisher noch unbekannte Bilder hinzugefügt. Die Sprache Franzeis, des offiziell Totgeschwiegenen und Verpönten, ist, nach einer Revision des Textes, noch klarer, noch flüssiger, noch mitreißender geworden.

Die großen Hintergründe des Geschehens treten in diesem schmalen Band zutage wie ein Fresko, von dem die Übermalungen Schicht um Schicht abzufallen beginnen.

KRONPRINZEN-MYTHOS UND MAYERLING-LEGENDEN. Von Emil Franzel. Zweite, erweiterte Auflage (6. bis 12. Tausend). Verlag Herold, Wien-München 1973, 100 Seiten, 36 Abbildungen. S 78.—.

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