6923005-1981_51_15.jpg
Digital In Arbeit

Der Wille zu behüten, der Trieb wohlzutun

Werbung
Werbung
Werbung

Was ist Liebe? Wenn ich Ja sage zur Existenz eines anderen, ist das schon Liebe? Sicher nicht. Aber so fängt sie vielleicht an als allgemeine Menschenfreundlichkeit, Lebensfreundlichkeit, ein flüchtiges Gefühl, ein lauer Windhauch, der mein (inneres) Gesicht berührt: du, der da mit mir in der Trambahn fährt, du, der da vor mir in meiner Lesung sitzt, du, junge Mutter mit dem Kind auf dem Arm, du, alter Mann mit dem Blindenhund, ich will euch wohl, aber ich weiß nichts von euch, werde auch nie etwas wissen, mein Ja-Sagen hat nichts zu besagen, es weht an, weht weg, es wird sich auch gleich wieder anderen zuwenden.

Etwas anderes ist das Ja-Sagen zu meinen Nächsten; das kommt aus der Mitte der Person, das sitzt in der Magengrube, sitzt im Sonnengeflecht, reicht bis in Finger- und Zehenspitzen, das füllt mich aus. Wenn meine Füße stolpern und meine Knie wanken, es hört nicht auf mich anzutreiben, bis in die letzten Schwaden weichenden Bewußtseins wird es noch seine Oszillationen schicken.

Dieses Ja-Sagen zu meinen Nächsten (Nächsten, die mit dem

„Nächsten“ der Bibel leider wenig zu tun haben) ist zugleich Sorge, immerwach, nimmermüde; der Wille, zu behüten, der Trieb, wohlzutun; er reicht bis in die Träume und erfüllt sie mit Ängsten, denn da ist immer eins, das in Gefahr gerät, und ich kann nicht warnen; ein hungriges Kind, für das ich nichts zum Essen finde; ein Kranker, zu dem ich reisen möchte, aber der Zug ist schon abgefahren; ein Ertrinkender, der die Hand nach mir ausstreckt, aber meine Hände sind gefesselt. Die Qualen, die mir da entstehen, und die Empfindung der Ohnmacht, ich glaube, sie sind Zeichen der Liebe.

Freilich — es gibt noch anderes: Manche Neigung mag nichts anderes sein als verfeinerter Egoismus. Wenn ich mit einem Freund ein Thema besprechen kann, das mir am Herzen liegt, gilt meine Freude an dem Gespräch der Person des Freundes oder dem Vergnügen an der vielleicht erregenden, kreativ fruchtbaren Neuprofilierung des Themas?

Oder wenn ich auf Reisen Wunderbares erlebt habe, gilt meine Neigung den Reisegefährten um ihrer selbst willen oder nur, weil

sie für mich ein Stück herrliches Erinnerungsgut mit sich führen?

Und was die Verliebtheiten in der Jugend betrifft, die rasch wechselnden Entflammungen für den, für die, sind sie Liebe zu nennen oder nur paradigmatische Signale für das sich entwickelnde männliche oder weibliche Selbstbewußtsein?

Ich schlage vor: Gehen wir nicht zu streng mit der Frage um, was denn nun Liebe ist. Sie ist etwas, das sich zu oft und unter zu verschiedenen Vorzeichen ereignet, als daß sie als reiner Stoff auftre- ten, als daß man sie definieren könnte.

Mir scheint: Liebe ist die Nährflüssigkeit, die die Pflanze zum Leben braucht. Sie kann über Wurzeln, über Blätter, über Blüten aufgenommen werden. Sie setzt sich um in Farbe, Duft, Glanz und natürlich auch in Frucht und Fortbestand, nicht zuletzt vielleicht auch in welkgewordenes fallendes Laub. Denn sein Welken und Fallen ist ja nur Zeichen dafür, daß Nachschub der Kräfte folgt, später, anderswo.

Die Autorin gehört zu den wichtigsten Schriftstellern der österreichischen Literatur.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung