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Die ganze Bevölkerung snielt die Geburt Christi

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Gott offenbart sich anders in der Stadt, anders auf dem Land. Während der Stadtmensch nur selten zufrieden ist und stets alles errennen möchte, verrichtet der im Einklang mit der Natur lebende Bauer seine Arbeit mit Bedacht und Erwartung. Noch immer verläuft das ländliche Jahr trotz ständigen Drucks aus der Industriegesellschaft im Rhythmus der Jahreszeiten.

Das Mysterium der Geburt Christi, erstmals vom heiligen Franziskus in der Umgebung von Assisi zum besseren Verständnis und zur Erbauung der Menschen nachgespielt, bewirkte in der Folge die Entstehung einer wahren Flut von Weihnachtsdarstellungen, Weihnachtskrippen und Weihnachtsspielen. Doch nur wenige Völker haben das Weihnachtsgeschehen zu einem so großartigen Erlebnis ausgebaut und so meisterhaft darzustellen vermocht wie die Italiener, die geborenen Künstler und Schauspieler.

Spiel und büdnerische Kunst zur Ehre der Geburt des Heilands bildet immer noch den Mittelpunkt des italienischen Weihnachtsfestes. Während anderswo sich die Weihnachtsspiele auf Szenen mit künstlichen Figuren oder mechanisch bewegte Krippen beschränkte, gibt es in Italien zwei Ortschaften, wo Jahr für Jahr die Krippe im wahrsten Sinn des Wortes „lebendig“ wird. Wo Menschen aller Berufe, Einfache und Gebüdete, Männer, Frauen und Kinder - keine Schauspieler - agieren. Es sind dies die Orte Rivisondoli, umgeben von den hohen Schneegipfeln der Abruzzen, und Revine Lago in den Alpen, in der Provinz Treviso.

Revine Lago ist ein einfaches alpines Dorf, das aus bescheidenen, alten, ärmlichen Häusern, engen Gassen, zwei Kirchen und einigen kleinen Geschäften besteht. Hier wird an den beiden Weihnachtsfeiertagen und am Fest der Heiligen Drei Könige nachmittags das Weihespiel von der Geburt Christi aufgeführt. Nicht im prunkvollen Theater, sondern im Freien, auf dem Platz vor der Kirche und in den Gassen des Dorfes - gespielt von der gesamten Bevölkerung des Dorfes. Naturalistisch, vielleicht etwas primitiv, dafür überaus bildhaft und vor allem herzergreifend. Dort wurde am Hang neben dem Kirchplatz, mit den schneebedeckten Bergen im Hintergrund, ein einfacher Stall aus Brettern, Schilf und Maisblättern zusammengebaut und dicht vor der Kirchenfassade ein einfaches Podium mit dem Thron des Herodes errichtet.

Am Tag der Aufführung des Spiels ist der Platz dicht umringt von Zuschauern aus der nahen und weiteren Umgebung; Erwachsene mit ihren Kindern und Enkelkindern. Das Spiel beginnt mit dem Auftritt des Engelchores, der singend die Geburt des

Heilands verkündet. Im gleichen Moment erstrahlt das Innere des Stalls in hellem Licht, wo Maria und Josef umgeben von Engeln, Ochs und Esel das Kind in den Schlaf wiegen. Zum Klang der Pfeifen tauchen aus den Gassen des Dorfes Gruppen von Hirten in haarigen Fellmänteln auf und nehmen mit ihren Schafherden den Weg zur Krippe. Hinter den Hirten folgen Frauen mit Körben und gefüllten Krügen und eine Schar Kinder.

Aus der entgegengesetzten Richtung nähern sich bald darauf die Weisen aus dem Morgenland hoch zu Roß samt Gefolge, in orientalischen Trachten und mit prächtigen Geschenken, den Neugeborenen suchend. Es empfängt sie Herodes, umgeben von römischen Würdenträgern und Soldaten. Dialoge und Monologe wechseln mit Liedern und Chorgesängen. Auch die folgenden Szenen, von der Weiterfahrt der Heiligen Drei Könige, dem Wutausbruch des Herodes, der den Neu-

geborenen zu suchen befiehlt, und von der Ankunft der Könige im Stall von Bethlehem, werden mit viel Talent gespielt. Wenn es zu dämmern beginnt, zünden die Hirten, die vor dem Stall ihr Lager aufgeschlagen haben, Feuer an und beginnen ihre Mahlzeiten zu kochen.

Das Spiel der „Lebenden Krippe“ endet mit der dramatischen Flucht der Heiligen Famüie nach Ägypten. Der Chor der Engel stimmt zum Abschluß einen uralten Lobgesang an, während die Kirchenglocken gedämpft zum Platz der Aufführung herübertönen.

Die Aufführung der Lebenden Krippe dauert ganze zwei Stunden, etwa 300 Personen nehmen teil. Alle Darsteller sind Einwohner von Revine Lago. Die Heilige Familie spielt immer ein anderes Ehepaar’ mit dem jüngsten, also letztgeborenen Kind des Dorfes.

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