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Die geliebte Verfremdung
Das Musikprotokoll des diesjährigen „Steirischen Herbstes“ brachte — die auf zwei Abende verteilte, in hohem Maße als Nachholinfonnation wertvolle Hanns-Eisler-Retrospektive ausgenommen — in neun Konzerten, die zum Teil auch in der Provinz stattfanden (Stift Seckau, Mur au, Weiz) nahezu ausschließlich europäische bzw. österreichische Erstaufführungen. Ein Informationsabend von erstaunlicher Spurbreite zog an denen vorüber, die Neues aufnehmen, durchhören, überprüfen wollten. Da oder dort gelang sogar trotz mancher Verfremdungseffekte die Fixierung eines Standortes, der Gewinn einer Orientierung, einem Wegweiser gleich, der eine bestimmte Route empfiehlt. Ob sie der Komponist beschreitet oder auf halber Strecke kehrtmacht (oder abbiegt), könnte Stoff für ein Quiz voll intellektueller Phantasie bieten.
Das Musikprotokoll des diesjährigen „Steirischen Herbstes“ brachte — die auf zwei Abende verteilte, in hohem Maße als Nachholinfonnation wertvolle Hanns-Eisler-Retrospektive ausgenommen — in neun Konzerten, die zum Teil auch in der Provinz stattfanden (Stift Seckau, Mur au, Weiz) nahezu ausschließlich europäische bzw. österreichische Erstaufführungen. Ein Informationsabend von erstaunlicher Spurbreite zog an denen vorüber, die Neues aufnehmen, durchhören, überprüfen wollten. Da oder dort gelang sogar trotz mancher Verfremdungseffekte die Fixierung eines Standortes, der Gewinn einer Orientierung, einem Wegweiser gleich, der eine bestimmte Route empfiehlt. Ob sie der Komponist beschreitet oder auf halber Strecke kehrtmacht (oder abbiegt), könnte Stoff für ein Quiz voll intellektueller Phantasie bieten.
Das Programm des ersten Abends mit dem BBC-Orchestra unter Pierre Boulez, der Werke von Carter, Birtwistle und eine eigene Komposition dirigierte, wurde im Wiener Konzerthaus inzwischen wiederholt und in Nr. 44 der „Furche“ besprochen.
Das Plaudern, das allzu ausführliche, worunter Birtwistles Werk leidet, scheint überhaupt der Komponisten Lust geworden zu sein. Sie halten mit Tinte und Druckerschwärze, oft auch mit Einfall beim Komponieren zurück, aber im Selbstkommentar sind sie hohe Klasse. Friedrich Cerha hat sein (Hexen- verbrennungs-)„Verzeichnis", bei dessen Vortrag die Stuttgarter Schola Cantorum unter der Leitung von Clytus Gottwald einige Schock an Namen von Verbrannten auf zählen darf, zur Erhöhung der Schockwirkung beim Rezensenten auch noch um einen umfänglichen Kommentar angereichert. Er wäre nicht nötig gewesen, ist aber so ehrlich wie Cerha selbst und somit auch seine Musik, die im speziellen Fall von gnadenloser Monotonie kündet. Die am selben Abend uraufgeführte „Choro- graphie“ von Roman Haubenstock- Ramati setzt vier Sopran-, Alt-, Tenor- und Baßstimmen erst live ein und dann auf Tonband an und damit Akzente technischer Medien, Rückkoppelungsgeräusche, denatu rierten Klang, synthetische Orchesterfarbe. Mit dem Stück „Dona nobis pacem" des Schweizers Heinz Holliger hatte der Abend sein bestes Werk bekommen. Fixierte Tonhöhen für jede Silbe beziehungsweise ganze Formabschnitte, dazu sprachliche Permutationen und als Resultat sinnlicher Sphärenklang von wohltuender Ordnung und Klarheit
Nach einem arg danebengegangenen Konzert des hervorragenden Belgrader Rundfunkchors, der nicht mit dem vereinbarten Programm gekommen war, dirigierte der große alte Herr der polnischen Musik, Witold Lutoslawski, im Stafanien- Saal einen Abend mit eigenen Werken: Die ausdrucksstarke zwölf - tonige Trauermusik (geschrieben in Verehrung Bartöks zu dessen zehntem Todestag), hernach „Trois Poėmes d’Henry Michaux“ für Chor und Orchester, die in Impressionismen glitzern, hierauf fünf Lieder auf Kinderreime mit variablem, teils konsonantem Zwölftonklang von Anna Malewicz-Madey reich nuanciert gesungen. Effektvoller Ausklang: „Livre pour orchestre“, ad libitum und „festgelegt“ gespielt, mit Metamorphosen in der musikalischen Gewichtsverteilung. Ein denkwürdiger Abend.
Das Finale des „Musikprotokolls“, in der Sporthalle der Hauptschule in
Weiz gesetzt, begann mit einer Auftragskomposition für den ORF: Friedrich Cer has „Spiegel IV": Ver- grübelte Musik, tönende Einsamkeit, heftige Dissonanzen, klirrende Instrumentationseffekte — ein Einsamer auf dem Nordpol, unmittelbar vor dem Erfrieren. Nonos „Intolle- ranza“-Suite danach tat wohl, taute Hirn, Herz und Ohr auf, sprühte vor Geist und Vitalität. Das beste Stück des Abends, der mit einem unverwechselbaren Penderecki („Kosmo- gonia", wie die „Intolleranza“ erstmals in Österreich zu hören) sein Ende fand und mit einem Fantaisie- Impromptu von Gerardo Gandini, der selbst den Klaviersolopart spielte, unvermutet in die Landschaft zwischen Chopin und Gershwin abrutschte.
Wendelin Frauenhofer
Auch dieses Konzert wurde, als gemeinsame Veranstaltung des ORF und der Jeunesse musicales in Wien wiederholt. Wir können uns daher beschränken, einige allgemeine Eindrücke von diesen vier Werken wiederzugeben. Die Komponisten gehören den Jahrgängen 1924 bis 1936 an und weisen, obwohl die Oper „Intolleranza“ bereits vor zehn Jahren in Venedig aufgeführt wurde (als Cerha seine „Spiegel“ entwarf) und Pendereckis „Kosmogonia“ 1970 in einem Jubiläumskonzert der UNO zum erstenmal erklang, verschiedene Gemeinsamkeiten auf. Das kürzeste der genannten Stücke dauert 13, das längste 16 Minuten. Aber nicht immer liegt in der Kürze die Würze. Verstehen wir freilich darunter Lautstärke und brutale akustische Effekte, dann stimmt es wieder. Denn was auf diesem Gebiet dem Hörer zugemutet wird, ist ungewöhnlich und abstumpfend. Jeder einzelne der vier Komponisten müßte sich klarmachen, was für einen radikalen Fehler er allein hiedurch begeht. ORF-Chor und Orchester unter der Leitung von Milan Horvath zeigten sich den Anforderungen und Anstrengungen der Wiedergabe durchaus gewachsen und Mechtild Gessendorf hat für Nonos Heldin aus „Intolleranza“ ihre jugendlich starke und gutklingende Sopranstimme eingesetzt.
H. A. F.
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