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Die Klara ist hart vorm Knie

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Glänzender Asphalt Wie sich das gehört bei einer Beerdigung im Oberbergischen hinter Köln, regnet es. Die Luft riecht nach frischem Grün und alten Kränzen. Aus dem Tal schrillt das Martinshorn. Flüchtiger Schauder wie beim Gedanken an den Tod: Es hat einen anderen getroffen ...

Durch die Tür der Aussegnungshalle tragen sechs Zylindermänner einen Sarg. Einem der Herren rutscht die Kopfbedeckung immer wieder in den Nacken. Das sieht fidel aus, und einige Beerdigungsgäste machen sich verstohlen darauf aufmerksam. Kinder kichern — eine Beerdigung ist lustig.

Jetzt kommen die Hinterbliebenen. Viele Gesichter tragen kurzfristig bemühte Trauer, die sie einander ähnlich macht und schon die Vorfreude auf das anschließende Fellversaufen in sich birgt.

Die Witwe, Klara Velbert, tritt zögernd ans offene Grab. Otto und Hilde Rosenkranz (nicht Klaras Kinder, da kann man mal wieder sehen — nein, die Rosenkranz) stützen Klara. Der weiße Spitzenkragen auf Klaras schwarzem Kleid wird hier und da als unpassend empfunden.

Klara schaut, ohne zu sehen, in die lehmige Grube. Sie hat schon oft in solche Gruben geschaut, aber diese hier ist für ihren Mann, für Rudolf geschaufelt. Seit drei Tagen, seit Rudolf hier oben auf der Gostert im Kühlraum liegt, wartet Klara auf den Schmerz. Wünscht sie, daß er endlich kommt, wehtut, ihre Statistenrolle in diesem Trauerspiel verwandelt zum Solopart. Klara starrt angestrengt auf ihre Füße, die neuen Lackpumps voller Lehm. Ob sie die je wieder sauber bringt? Ein Glück, daß sie bei Giessel-manns noch die Stube frei hatten. Es sterben im Moment wieder soviel Leute. Nachher wird noch Beckers Friedchen beerdigt, und heute morgen haben sie schon den Doktor Bachmann in die Erde getan. Giesselmann kommt nicht nach mit Streuselkuchenbacken. Er hat nunmal den besten.

Klara ist unzufrieden mit sich. Jesus, jetzt begrabe ich meinen Mann und denke an Streuselkuchen. Dabei möchte ich weinen, ich will weinen, er hat es verdient, daß ich um ihn weine. Rudolf bleib da, bitte, Rudolf. Wie ein Kind, das sich selbst ins Grab träumt, sich in allen Einzelheiten die reuevolle Trauer der gemeinen Eltern ausdenkt, so meditiert sich jetzt Klara in den

Verlust Rudolfs hinein. Sie sieht und spürt die Blicke der Umstehenden, kennt ihre Gedanken: Die Klara ist hart vorm Knie, die hatte den Rudolf immer unterm Pantoffel, kein Bein auf die Erde gekriegt hat der bei ihr.

Klara sieht den ängstlichen Kaninchenblick Gottfrieds, Rudolfs Bruder. Er lebt seit Jahren mit in ihrem Haushalt und fürchtet jetzt um seinen warmen Platz. Ich werf ihn schon nicht raus, Rudolf, ich versprech es dir, soll er mir doch bis zum Jüngsten Tag die Kartoffeln schälen, wenn er will.

Neben Gottfried hat sich Klaus-Jürgen postiert, Klaras Sohn. Er blickt

verstohlen über die Trauergemeinde, und Klara weiß, er rechnet die Beerdigungskosten aus. Sabine, seine Frau, hält die Hände der beiden Kinder Nuffel und Bautzi, die ihre Mutter immer wieder tröstend streicheln, obwohl der Tod des Großvaters sie selbst bange gemacht hat. Sabines weiches Mädchengesicht ist verquollen vom Weinen. Sie hat Rudolf lieb gehabt und er sie, denkt Klara beschämt.

Nah bei Sabine, aber trotzdem so, als stünde sie in einer unsichtbaren Abzäunung, Petra. Dicht an sie geschmiegt Ninchen. Woher hab ich nur dieses eigensinnige Kind, denkt Klara verschwommen. Woher hat Petra diese olivfarbene Haut, den trotzigen vollen Mund, der herausfordernd aus dem Gesicht herauszuspringen scheint.

Weder Rudolf noch ich haben diese schöngebogene Nase, den Wust dunkler, naturkrauser Haare. Klara denkt mit bitterem Stolz, daß nicht Rudolf da unten in seinem Sarg die Hauptperson ist. Sie weiß, daß alle Petra anstarren. Und die gibt den Vögeln reichlich Futter. Das Leinenkleid mit den überbreiten Schultern läßt sie noch trotziger erscheinen: Ich bin nicht wie ihr, ich will nie so sein! Klaras ohnmächtiger Zorn, daß der Weg ihrer schönen Tochter nicht wünschenswert verläuft.

Aber Ninchen. Klaras tiefe Zärtlichkeit für Anina, Petras vierjährige Tochter. Das olivblasse Gesichtchen, die Stumpfnase, die Flut der Haare reicht bis in die Kniekehlen. Ein Prinzeßchen im rosefarbenen Blümchenkleid, ein Häkelkäppchen in der Stirn. Die traurige Nachdenklichkeit intensiviert den Zauber dieses Kindergesichts. In Klaras Kehle ist ein dicker Kloß aus Liebe und Stolz und Angst um dieses Kind. Auch Rudolf hat die Enkeltochter abgöttisch geliebt. Um so unversöhnlicher hatte er mit seiner Tochter gehadert. Nur einmal, nur dieses eine Mal möchte ich deine Gedanken kennen, denkt Klara bitter in Petras Richtung. Unbewegt steht Petra da, der Wind spielt mit ihrem Haar. Lächelt sie?

Als Pfarrer Rindermann sein Barett abnimmt zur Grabrede, steigt die helle Stimme Ninchens auf zum Regenhimmel: Der Opa soll jetzt aber wieder rauskommen.

Petra drückt die Kleine wortlos noch enger an sich. Die Erwachsenen schauen einen Moment unsicher, gerührt und irritiert. Pfarrer Rindermann räuspert sich beleidigt und beginnt: Herrrrr, dein Wille geschehe.

Klara fühlt jetzt den Druck von Hildes Hand auf ihrem Arm. Ich bin bei dir, Klara, wie immer. Otto, Hildes Mann, starrt in die Grube, auf Rudolfs Sarg. Als routinierter Säufer hat er es nicht schwer, Tränen um seinen Freund Rudolf zu weinen. Sie rinnen in die tiefen Kerben von seiner Nase zum Mund. Herr, dein Wille geschehe. Pfarrer Rindermann wiederholt es triumphierend. Rudolf konnte ihn nie leiden, und jetzt muß er sich von ihni begraben lassen. Dieser Gedanke kommt Klara so unvermittelt wie Ninchens Stimme, er füllt Klaras Kopf voll Mitleid mit Rudolf, mit sich selber, obwohl sie eigentlich nicht recht weiß, wieso. Alle Gesichter ringsum, bekümmerte und ausdruckslose, zerfließen jetzt zu einem Gesichterbrei, verdichten sich in Klaras Hals zu einem dicken Kloß, der ihr die Tränen herauspreßt, heiße Tränen, glaubwürdige Tränen. Das Weinen steigt hoch in ihrem Körper, schüttelt ihn, und sie wehrt sich nicht, begrüßt die Tränen wie langentbehrten Regen. Erleichtert spürt sie, wie Otto und Hilde sie besorgt stützen — wie die anderen überrascht auf sie schauen. Endlich, endlich ist aus Klara Velbert eine Witwe geworden.

Rauchschwaden füllen Giessel-manns Stube, sie nebeln die Trauergäste ein. Das gehört zu einem richtigen Reuzech. (So heißt im Oberbergischen eine anständige Beerdigungsfeier. Keiner weiß, woher der Begriff kommt. Es könnte gut sein, daß man aus Reue zecht, weil man gemein war zu dem Verstorbenen.)

Der buttrige Streuselkuchen ist so, wie Rudolf ihn mochte, wenig Boden,

viel Streusel. Da braucht man keinen Furz drüber krümeln, hätte Rudolf gesagt. Jetzt sitzen sie alle um den großen hufeisenförmigen Tisch. Petra mit Ninchen bei Sabine, Nuffel und Bautzi. Nuffel, die eigentlich Anousch-ka heißt, hat viel von der fremdartigen Schönheit ihrer Tante Petra. Ernst sitzt sie da und malt für ihren Bruder und Ninchen das, was sie am liebsten hat, Pferde. Die Kinder sind versunken ins Spiel, die Mütter ins Gespräch. Klara sieht es mit Erleichterung. Gott sei Dank hatte sich Petra von der ersten Sekunde an gut mit Sabine verstanden. Liebe auf den ersten Blick. Hans-Jürgen und Petra dagegen waren wie Hund und Katz.

Die Stimmung steigt. Cognac macht die Runde. Es wird geschwatzt und gelacht und politisiert. Sie reden vom Attentat auf den Papst und von der Rücktrittsdrohung des Bundeskanzlers. Als der Sondermanns Wilm vom Wettrüsten anfängt, wird es plötzlich gedämpfter. Der Wilm erklärt, daß die Russen bei uns in Europa 140 Atomraketen des Typs SS 20 stationieren und daß die Amerikaner zu den Pershing I noch Cruise missiles und Pershing II stationieren wollen. Wir sollen den Amerikanern den Dreck machen, sagt der Wilm.

Mensch, hör doch auf mit dem linken Gefasel. Bergers Schorsch hat ein Möbelgeschäft und sieht schnell rot. Die anderen schweigen, die Frauen rühren im Kaffee, schauen auf ihre Männer, was die dazu sagen.

Aber jetzt erhebt sich Otto Rosenkranz. Wenn auch etwas unsicher. Er hat seinem Freund Rudolf zu Ehren heute schon zeitiger mit dem Whisky angefangen. „Wir versaufen dem Rudolf sein Fell." Das ist jedem bekannt, und alle finden es in Ordnung.

Nur der alte Lehrer Höhler zuckt innerlich zusammen und denkt, daß der Otto den Genitiv nun auch nicht mehr lernt. Hilde Rosenkranz versucht etwas halbherzig, ihren Mann wieder auf den Stuhl zu ziehen, doch ihre reflexhaften Bemühungen tragen das Scheitern schon in sich. Ach was, räsoniert Otto, Hildes Hände wie ein leichtes Gatter beiseite schiebend, ach was, wenn ich jetzt in der Grube läge, ließe der Rudolf sich auch vollaufen. Niemand bezweifelt das.

Und Otto erzählt den immer fideler werdenden Trauergästen, was die fast alle schon wissen, aber immer wieder geduldig anhören, nämlich, wie Ottos Vater, der alte Rosenkranz, ums Leben gekommen ist. Stellt euch vor, sagt Otto und gestikuliert ein bißchen steif. Stellt euch vor, es war bei der Beerdigung vom Bockemühlen Emma. Die meisten von euch wissen noch, wer das war. Die beste Wirtin, die das Oberbergische jemals gesehen hat, jawohl! Und als Bockemühlen Emma starb, trug mein Vater mit anderen Freunden den Sarg. Und als sie die Emma runterließen in die Grube, da rief unser Vater plötzlich „Emma, ich komme dir nach", und rumms fiel er runter, rein in die Grube, auf Emmas Sarg. Jawohl. Mausetot war unser Vater. Jawohl. Prost.

Alle prosten, bald reden wieder alle durcheinander, die Männer von ihren Tagesläuften, die Themen der Frauen sind ohnehin unerschöpflich.

Es wird immer lauter, immer ausgelassener. Niemand merkt, daß sich die

Witwe mit ihrer Freundin Hilde verdrückt

Aufatmend gehen die beiden Frauen durch die feuchte Regenluft. Den Weg vom Friedhof auf der Gostert in die Goethestraße, wo beide seit ihrer Kindheit wohnen. Klara atmet die wohlriechende Mailuft tief ein. Wie oft ist sie mit Hilde diesen Weg von der Gostert, die hoch über dem Aggertal liegt, nach Hause gegangen. Bei so vielen Beerdigungen. Ihre Eltern liegen droben, die Großeltern, Vollmers Albrecht, der sich mit dem Motorrad zu Tode fuhr, Kleins Nonno, der sich eines Tages einfach erhängt hatte, und keiner wußte, warum. Und der siebenjährige Uwe von Roßbachs, der in der Agger ertrank. Wieviel Schmerz, schier ausweglose Verzweiflung hatte Klara auf der Gostert gesehen. Sie war daran gewöhnt, ging seit ihrer Kindheit zu allen Beerdigungen und nachher seufzend zum Alltag über. Immer führte der Weg von der Gostert in die Goethestraße. Vorbei an den Gärten nahe der Eisenbahnlinie. Sie sah, daß Vasbenders die Tulpen als erste am Blühen hatten und daß der Flieder bei Keppers dieses Jahr nicht aufgehen wollte. Und immer war Hilde an Klaras Seite.

Als Kinder waren sie rasch durch die Unterführung gehüpft, sich leise graulend, wenn ein Zug darüberdonnerte, die schwarzgraue Dämmerung erzittern ließ.

Früher, als die Toten noch aufgebahrt waren in den Wohnzimmern, ging der Leichenzug durch den Ort. Vorndammes Karl hatte seine Pferde vor den schwarz-silbernen Leichenwagen gespannt Gemeinsam mit seiner hüftleidenden Frau Anna, von allen Hüppetüpp genannt, bahrte er die Toten auf und kutschierte sie auf ihrer letzten Fahrt

Heute gab es zwei Leichenbestatter in Berghausen. Einmal den jungen Schreiner Sterzenbach, dessen hübsche Frau mit demselben Impetus die Toten aufbahrte, mit dem sie Tennis spielte. Die Sterzenbachs sollen mich aufbahren, nur ja nicht der fiese Kreienbaum!, hatte neulich Tante Rosa empört verlangt Sie hatte gesehen, wie Kreienbaum, der zweite Bestatter, den Sarg nach ihrer Meinung äußerst unsanft aus dem Wagen geruckelt hatte. Also, wie der die Toten rumschockt! Tante Rosa hatte daraufhin testamentarisch festgelegt von wem sie eingesargt werden will.

Es war meist so, daß Hilde und Klara allein heimgingen von den Beerdigungen.

Ihre Männer ließen sich beim Reuzech jedesmal vollaufen. Das gehörte sich so. Aber diesmal war es anders. Es war Klara, als ginge sie den vertrauten Weg heute in einem anderen Licht Sie hatte etwas droben gelassen auf der Gostert. Neunundzwanzig Jahre.

Was für idiotische Gedanken. Klara möchte mal wieder über sich selbst den Kopf schütteln. Doch bebt in ihr plötzlich eine unklare, aber heftige Lust am Leben, der sie keinen Namen geben kann. Fest drückt sie den Arm der Freundin, die bekümmert und wortlos neben ihr hergeht Hilde, sagt Klara mit einem letzten kleinen Schluchzlaut, Hilde, ich glaub, ich hab keinen Kaffee mehr zu Hause ...

Christ und Ufelt

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