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Die reine Welt als Prinzip

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„In der Architektur und in der Reinheit des Stils werden sie von keinem Volk auf Erden übertroffen. Ihre Dörfer und Städte legen allenthalben Zeugnis ab von ihrem handwerklichen Können und ihren fertigungstechnischen Kenntnissen. Die gesamte Gesellschaft lebt in beispielloser Ordentlichkeit, wenn nicht sogar Gepflegtheit — kein Armer ist unter ihnen —, alle in der gleichen Unabhängigkeit“, .schrieb Robert Wickliffe in seiner Senatsrede von 1831 über die „Shaker“.

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„In der Architektur und in der Reinheit des Stils werden sie von keinem Volk auf Erden übertroffen. Ihre Dörfer und Städte legen allenthalben Zeugnis ab von ihrem handwerklichen Können und ihren fertigungstechnischen Kenntnissen. Die gesamte Gesellschaft lebt in beispielloser Ordentlichkeit, wenn nicht sogar Gepflegtheit — kein Armer ist unter ihnen —, alle in der gleichen Unabhängigkeit“, .schrieb Robert Wickliffe in seiner Senatsrede von 1831 über die „Shaker“.

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Friedrich Engels etwa beschreibt 1845 im „Deutschen Bürgerbuch“ ihr Städtchen Pleasant Hill: Es besteht „aus vielen großen und hübschen Häusern von Ziegeln und Haustein, Fabriken, Werkstätten, Ställen und Scheunen, alle in der schönsten Ordnung und mit die besten in ganz Kentucky.“ Und Hepworth Dixon notiert 1869 in „New America“ über das Dorf Mount Lebanon: „Kein holländisches Städtchen wirkt adretter, kein Dorf in Mähren ist von so verträumter Stille. Die Straßen sind ruhig, denn es gibt keine Destillen, keine Bierschenken, kein Gefängnis, keine Pfandleihe. Nicht eines von dem Dutzend Häuser, die sich hier erheben — Werkstätten, Scheunen, Bethaus, Stallungen, Küchen, Schulen und Wohnheime —, ist verschmutzt oder von schreienden Farben. Jedes Gebäude, welchem Zweck es auch immer dienen mag, vermittelt den Eindruck eines Gotteshauses.“

Grundlage für all diese Schilderungen des Lebens und der LebensJahrhunderts qualitäten der in den USA berühmten „Shaker Community“ waren ihre eigenen Regeln und Sätze: „Regelmäßigkeit ist schön. Ordnung ist der Ursprung der Schönheit... Schönheit beruht auf Zweckmäßigkeit. Alle Schönheit, die nicht auf Gebrauch gegründet ist, wirkt bald widerlich und muß laufend durch Neues ersetzt werden...“ Diese Sätze könnten in ihrem Bekenntnis zu dem, was etwa seit Adolf Loos als „modern“ gilt, von einem der großen Funktionalisten stammen, von den Konstruktivisten oder Theoretikern des modernen Design. Um so mehr staunt man, daß sie fast durchwegs zu Ende des 18. Jahrhunderts aufgestellt wurden und daß sie, von den „Shakern“ in allem befolgt, zu Zellen einer beispielhaften Lebenskultur in den USA des beginnenden 19. Jahrhunderts geführt haben.

Eine vom Museum des 20. Jahrhunderts von der Münchner Neuen Sammlung übernommene Ausstellung demonstriert, daß in dieser „Shaker Community“ der dreißiger und vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts eigentlich der Grundstein zu dem gelegt wurde, was wir heute als materialgerechten Design, als funktionelle Gestaltung bezeichnen. Was die „Shaker“-Architekten,zum Beispiel Micajah Burnett oder Moses Johnson, in dieser Hinsicht entwarfen, ging vor allem in seiner „zweckgebundenen Schönheit“ auch weit über alle Reduktionsbestrebungen des Biedermeierhandwerks hinaus. Wer den klaren Schwung etwa einer 1839 gebauten Burnett-Treppe in Pleasant Hill — Turstees Haus — sieht oder das 1824 bis 1834 errichtete Center Family House in seinen klaren Linien, holzgefaßten Bögen, dunklen Rahmungen, Treppenanlagen, hölzernen Teilungslinien der glatten weißen Wände, der wird an die strengsten Architekturen und Innenausstattungen schottischer Arts-and-Crafts-Bewegung, an strengste Geo-metrisierungen der Wiener Werkstätte, an italienischen Design in seiner Glanzzeit denken. Da scheint schon alles vorweggenommen, alles gesagt, all das vorgezeigt, was 100 Jahre später einem sich gerade von allen Stilen endgültig befreienden Europa erst zu Bewußtsein kommen sollte ...

Allerdings ist dieser Stil der „Shaker“ nicht isoliert zu sehen: Er ist ohne den Lebenszusammenhang, ohne ihre Lebensform in einer großen christlichen Kommune nicht denkbar. Was die 1774 in New York landende Mutter Anne Lee und ihre acht Quaker-Anhänger suchten, versuchten, ist die Erschaffung einer neuen Gesellschaftsform sozialer Gerechtigkeit in einer selbstgeschaffenen Umwelt. Was sie wollten, wo-. für sie kämpften, das gilt heute als Pionierleistung: die Emanzipation der Frau, Rassengleichheit, die Ablehnung des Kriegsdienstes, Glaubensfreiheit. Sehr rasch bereiteten sich die Kommunen in den USA aus.: Bis 1825 wurden etwa 19 gegründet, die sich teilweise bis in die dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts hielten. In Sabbathday Lake oder Canter-bury (New Hampshire) leben heute noch „Shaker“.

Der religiöse Hintergrund für ilire Isolierung war in der Erkenntnis begründet, daß die Shaker ihr „Reich Gottes auf Erden“ nicht in der Vermischung mit der „profanen Welt“ verwirklichen konnten. Also bildeten sie auf der Basis des Gemeineigentums ihre eigenen wirtschaftlich selbständigen Kommunen, für die sie nahezu alles selbst herstellten, was gebraucht wurde. Und so wie Reinheit und Einfachheit das Prinzip ihres Lebens waren, so prägten auch diese Grundsätze ihre Produkte: ihre Möbel, Gebrauchsgegenstände. Bauten. Räume, ihre ganze Umwelt.

Zweckmäßigkeit und Brauchbarkeit, Einfachheit und Klarheit, Perfektion funktionaler Gestaltung . .. Das läßt sich — wie im Museum des 20. Jahrhunderts zu sehen ist — in jedem Leuchter, jedem Teppichklopfer, Nähkasten, Stuhl, Kasten nachweisen. Und für die Shaker war die einzige zulässige „Gestalt“ das, was funktionell richtig gedacht und konstruiert war. Aber als „Kunst“ wollten sie ihre Produkte nicht bezeichnen, so wie sie Schönheit nur als nicht beabsichtigtes „Nebenprodukt“ duldeten. — Ein Paradoxon der Gegenwart: daß der amerikanische Kunsthandel heute für „Shaker“-Kunstgewerbe erstaunliche Summen bezahlt,' ja es als Beitrag zur amerikanischen Kunst zu Höchstpreisen handelt, darauf Jagd macht, als ob diese Gebrauchsgegenstände des einfachen Lebens von einst Luxusstücke einer mondänen Welt wären.

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