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Ein anderer Claudel

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„Ein anderer Claudel”, unter diesem Titel hat Eve Francis, die erste Interpretin der großen Frauengestalten seiner Dramen, ihre lebhaft erörterten Erinnerungen an eine Jahrzehnte währende intime geistige Freundschaft mit dem Dichter veröffentlicht. Sie zeigen den Menschen, der sich ungezwungen gibt und rückhaltslos ausspricht, am Fuße des Sockels, auf den man ihn gestellt hat, tun ihn nicht beim Wort nehmen zu müssen. Nichts anderes schwebte Silvia Monfort vor, die 1947 beim Festival von Avignon unter Jean yilar die Sara in der „Geschichte von Tobias und Sara” kreiert hat. Seit einigen Jahren leitet sie am Carrė Thorigny im alten Quartier du Marais mit sehr viel Initiative ihr eigenes Theater. An den alten Adelspalästen vorbei, die vor ihrem Zerfall bewahrt werden und in neuer Schönheit erstehen, kulturellen Zwecken zugeführt, gelangt man durch einen großen, surrealistisch dekorierten Torgang zu der mit einfachen Mitteln in ein Theater verwandelten Garage. Im Foyer ist eine Ausstellung „Claudel privat” mit einer Gedenkausstellung an Rimbaud und das Erscheinen der „Saison en enfer” vor 100 Jahren verbunden, ein paar Modepuppen in Kleidern der zwanziger Jahre geleiten den Besucher zum Saal und versetzen ihn in die Entstehungszeit der „Gespräche im Loir-und-Cher”, geschrieben in den Jahren zwischen 1925 und 1928. In einen frei ersonnenen Wochenablauf, der von Donnerstag über Sonntag zum Samstag und Dienstag führt, läßt Claudel seine Feriengäste auf dieser ewigen Wanderschaft, die von nirgendwo irgendwohin führt, in der Ungezwungenheit solcher Ferienatmo- sphäre ihre Probleme erörtern. Mit großem Geschick hat Silvia Monfort diese Gespräche auf eines zusammengerafft. Was ein Wagnis schien, hat einen überaus lebendigen Theaterabend ergeben, dem bei der Generalprobe in Anwesenheit des Ministre des affaires culturelles Maurice Druon ein voller Erfolg beschie- den war, der sich bed den nachfolgenden Abenden wiederholte und in der Presse ein lebhaftes Echo fand.

Civilis, Furius, Acer und die Musd- kantin Florence — überflüssig zu sagen, daß sie wie im „Tausch” vier Seiten des Dichtem verkörpern: den Idealisten, den Realisten, den Kritiker, sarkastisch bis zum Zynismus, und die Träumerin —, durch eine Autopanne an der Wedterfahrt verhindert, vertreiben sich die Zeit, indem sie kunterbunt allerlei Probleme aufwerfen und uns dabei eine Demonstration der Kunst des Gespräches vorführen, die derart in Vergessenheit geraten ist, daß es in San Francisco einen Laden gibt, in dem man Gespräche kaufen kann. Hier aber läuft alles wie von allein nach der Devise von Mallarme, den Worten die Initiative zu überlassen. Das eine gibt das andere, die Neckerei und die Sticheleien zwischen den vier Personen sorgen dafür, daß der Faden nicht abreißt, und das Schmunzeln und Lachen des Publikums hält sie bei guter Laune. Die Umweltverschmutzung, die modernen Mietkasernen, die Intellektuellen — „es gibt nur eine gefährliche Klasse, ich meine die der Intellektuellen, das heißt, von Leuten, die über ein Instrument verfügen, für das es keine Verwendung gibt” —, die moderne Architektur, die nicht in Steinen oder Volumen, sondern nach Plänen, Linien und Berechnungen vorgeht, um sich in der Phanta- sielosigkeit zu verlieren, China, das Familienleben im modernen Wohh- pferch, das alles erweist sich ganz heutig und ist doch vor fünfzig Jahren durchdacht, mit Humor und Sarkasmus gewürzt, was jegliches Theoretisieren und Belehrenwollen ausschließt.

Stoff ist also reichlich vorhanden für einen Theaterabend; blieb als letzte Schwierigkeit, das Fehlen einer eigentlichen Handlung wettzumachen durch ein Spiel. Vielleicht daß die verhältnismäßig große Bühne den Regisseur Guy Lauzin zu einer zu ausgeprägten Choreographie verleitete. Aber in der lebhaften Debatte, die sich immer wieder von neuem entzündete, vergaß man auch das. In der dankbarsten Rolle, dem bissigen Furius, glänzte Gabriel Jab- bour, Philippe Brigaud raisonnierte kühl und steuerte zielsicher seine

Pointen-an als Civilis, während Patrick Lancelot sich in den Träumen von Acer etwas verlor, adle unmerklich gelenkt von der Musikantin Florence, der Silvia Monfort Anamt und etwas Schnippisches verlieh, Das Publikum schien erfreut zu sein, statt Absurditäten und Abstrusitäten ein Denkspiel vorgesetzt zu erhalten.

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