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Ein erster Schritt ist getan

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In diesem Jahre haben in Wars-zawa den ersten Weihnachtsbaum Amerikaner aufgestellt. Das ist der größte Baum. Wie man hört, steht ein ebensolcher Weihnachtsbaum vor dem Weißen Haus. Hier nennt man manchmal das Gebäude, vor dem der Christbaum angebracht wurde, ein „Graues Haus". Eine solche graue Farbe hat nämlich das Königsschloß in Warsza-wa. Vor einem Jahr noch war kein Weihnachtsbaum vor dem Königsschloß, nur ein sowjetischer Nikolaus ging dort spazieren. Es scheint, daß jetzt der Nikolaus gegen eigene Probleme ankämpft. Dagegen konnte der reiche Onkel aus Amerika es sich erlauben, uns ein solches Geschenk in Gestalt eines zehn Meter hohen Weihnachtsbaumes zu geben. Das ist sehr sonderbar, aber in diesem Jahre sind auch auf den anderen Plätzen der Stadt unverhofft viele bunt geschmückte Weihnachtsbäume plötzlich aufgetaucht. Die Menge muß in Erstaunen setzen.

Die Stadt hat sich beinahe auf gehellt. Man kann zwar diesen Effekt als Revolution von „Solidarnos'6" vermuten, da ist etwas daran. Es ist jetzt ganz anders als vor drei, vier Jahren. Eine Änderung ist schon bemerkbar. Sogar die Leute sind geändert worden. Sie sind letztens beinahe ruhig geworden. Die mit den Wahlen verbundenen Aufregungen sind vorbei. Tyminski ist über den Ozean weggeflohen. Präsident Walesa herrscht in Warsza-wa. Er ist niemandem etwas schuldig. Die neue Regierung beginnt allmählich das Regiment zu führen. Die Leute haben also augenblicklich keine Ursache, sich zu erregen. Da herrscht irgendeine merkwürdige, für manchen zweifelhafte Stille im polnischen Volk.

Die Läden sind gegenwärtig voll Waren. Diese Angelegenheit bessert ausdrücklich die Stimmung des Volkes. Noch vor einem Jahre waren die Läden für Käufer ein wirkliches Schreckbild - „die fünfte Kolonne". Heute nicht mehr. Wir sir d ruhig, weil wir alles kaufen können. Es gibt noch solche Stellen, die voll Überraschungen sind. Sie haben ganz westeuropäisches Aussehen, und mich erinnern sie an Wien.

Diese uns Europa annähernde Stimmung ändern die Bilder aus dem Zentrum der Hauptstadt: Vielsprachige Händler, kleine, arme, rumänische Kinder, ein bulgarischer Cognac-Verkäuf er. Wir blik-ken danach durch eine Scheibe. Noch wenig kommt in unser Bewußtsein. Aber da haben wir endlich die ersehnte Änderung. In dieser Situation müssen wir einander helfen. Aus der Not müssen wir zusammen hervortreten, sonst kann es jedem von uns wieder schlecht gehen.

Warschauer Straßen sprechen viel. Da läuft am Weihnachtsabend der Nachzügler - ein Vater mit einem kleinen, elenden Weihnachtsbäumchen. Ein Karpfen zappelt im Einkaufsnetz,im Bus riecht es nach Heringen. Zu Hause stehen die Frauen am Herd. Ehefrauen, die festliche Pilzsuppen, Rote-Rüben-Suppe oder ukrainische Heringe mit Mayonnaise, russische Piroggen und Nudeln mit Honig und Mohn zubereiten. Kinder zünden die ersten Kerzen auf dem Weihnachtsbaum an, Väter verkleiden sich als heiliger Nikolaus. Endlich - ein Weihnachtsmahl! Es gibt eine Oblate und bei Tisch bleibt traditionell ein Platz frei für einen unverhofften Gast.

Wir sind glücklich, daß am Fernsehschirm plötzlich kein Gesicht des Generals Wojciech Jaruzelski oder des früheren Ministers Czes-law Kiszczak sich zeigt. Schlimmsten- oder bestenfalls besucht uns auf dem Fernsehschirm Präsident Walesa oder der gutherzige Premier Jan Olszewski.

Am Weihnachtsabend gehe ich spät nachts zur Christmette in unsere Pf arrkirchei Hier gab es einst (wann war diese Zeit?) eine gute Neuigkeit von Priester Jerzy Po-pieluszko. Heute befindet sich auf seinem Grab viel Weihnachtsschmuck. Nach der Heimkehr führen wir bis in späte Nachtstunden Gespräche über Politik und über die eigene Lage. Das ist noch nicht lange polnische Tradition. In diesen Tagen fällt es uns schwer, nicht auf uns selbst zu schauen. Die vergangene Zeit hat sehr lange gedauert. Sie enthält so viele Ereignisse. Da ist es sehr schwer, über die Brük-ke, an das andere Ufer des Flußes zu kommen. Es gibt kaum Möglichkeiten, sich nach hinten umzusehen. Es gibt nicht einmal die Kraft, die Nachbarn zu beobachten.

Im Laufe des neuen Jahres soll sich das ändern. Nach Weihnachten müssen wir an die Arbeit gehen. Die Amerikaner nehmen ihren Weihnachtsbaum wieder mit.

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