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Ein kleiner bunter Stein

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Es ging sehr langsam, seine Füße schienen ihn kaum mehr zu tragen. Als er gegen Mittag endlich oben angelangt war, setzte er sich auf die Bank unter der großen, alten Linde. Seit seiner Kindheit liebte er es, in ihrem Schatten zu sitzen und ins Land hineinzuschauen. Hitze und Müdigkeit ließen ihn bald einnicken.

Als er erwachte, begann es bereits zu dämmern. Die Luft war schwer, bläulicher Dunst hatte sich über die Felder gelegt. Dahinter, sehr fem, ein gleichmäßiges Summen. Es roch nach Erde und nach sonnenwarmem Holz. Alles schien betäubt, matt dehnte sich der Nachmittag in den Abend.

Der Schmerzstieg wiederauf: Sommer, unser Sommer damals. Das Kinderlachen, nein, ein Jauchzen war es gewesen. Zwei fliegende Zöpfchen, das helle, strahlende Gesicht! Mit ausgebreiteten Armen war das Mädchen auf ihn zugeflogen: „Papa, schau was ich gefunden habe". Plötzlich, aus dem Nichts auftauchend, ein silberglänzender Wagen. Er hatte ihn zu spät gesehen. Jähes Bremsen, Quietschen, herz-zerreißendes Geräusch. Das kleine Mädchen war an den Straßenrand geschleudert worden. Da lag es still. In der verschlossenen Hand hielt es einen kleinen bunten Stein.

Er wollte schreien, aber sein Mund öffnete sich nur lautlos und klappte wieder zu. Dann nur noch Schwärze ringsum, Dröhnen, Sausen, ein tiefer Brunnen. Er fiel, der Brunnen war

ohne Boden.

Wann war er zurückgekehrt? Er konnte sich an nichts erinnern. Alle waren da, aber er nahm sie nicht mehr wahr. Er wollte nur das helle Gesicht, die fliegenden Zöpfchen. Nurdaseine jauchzende Lachen! Die anderen Stimmen marteten ihn, er begann sie zu hassen. Nachts dann immer wieder das Aufschrecken - Bremsen, Quietschen, die unerträgliche Stille danach. Bis er eines Morgens begriffen hatte, daß das helle Lachen für immer verschwunden war.

Ein halbes Leben war seither vergangen. Er hatte gelernt zu vergessen. Nun war der Schmerz zurückgekehrt und preßte ihn zusammen. Luft, Luft! Etwas griff nach ihm, er konnte kaum noch atmen. Donnergrollen, der Himmel überzog sich rasch. Klares Blau noch über der Linde, aber von Westen her schob sich eine mächtige, dunkle Wolkenwand näher und näher; ab und zu erhellte ein Wetterleuchten die Szenerie. Stille, - dahinter lauernd, sprungbereit, die Verschwörung. Es war höchste Zeit aufzubrechen.

Als er sich erhob, hörte er die Stimme. Leichtfüßig sprang es den Berg herauf: „Papa schau ..." Das Lachen! Sein Sommervogel war zurückgekehrt. Er öffnete die Arme. Das Glück, endlich, - so nah!

Spaziergänger fanden den alten Mann noch am selben Abend, nach einem schweren Gewitter. Er war unter der Linde zusammengesunken. Herzschlag, hieß es, vielleicht der Blitz? In seiner verschlossenen Hand fand man einen kleinen bunten Stein.

Albin Egger-Lienz: Den Namenlosen 1914,1916 (Ausschnitt)

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