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Kindheit auf der Pußt

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Woher ich kam? Vom Ufer des großen Flusses vertrieb man mich. Zarte Wasserlilien, graue Trauerweiden, wogende Ähren, blühende Akazien gab es dort und einen alten Schäfer. Das weiße Herrschaftshaus schaute weit über das Land. Mein Bruder und ich hausten immer oben im Turm, wo es nur Spinnwebe, Staub und schlafende Käuze gab. Weit, weit schweiften unsere Blicke, kein Berg versperrte die Aussicht.

Unsere Mutter liebte den Turm nicht und war über unsere dortigen Aufenthalte verärgert. Sie war klein, schwarzhaarig und kränklich, doch niemand konnte so wunderbar träumen wie sie. Sie schrieb auch Gedichte und lernte mit uns, als wir Schulaufgaben hatten. Mutter war wundervoll! Nur in einem Punkt gab sie nicht nach, den alten Turm liebte sie nicht. Aber sie liebte das wunderbare Tiefland, die unendliche Ebene, des alten Schäfers Erzählungen und den zauberhaften Fluß.

Vater hatte ich keinen, und er ging mir nicht ab. Wie sollte mir jemand gefehlt haben, den ich gar nicht kannte? Ich hatte dafür Mutter, Albert, meinen Bruder, den alten Schäfer, den Verwalter, die Köchin, die Stubenmädchen, die Mägde, die Knechte und irgendwo in der Stadt einen bösen Onkel.

Albert und ich waren mit der Welt vollkommen zufrieden, sie war ruhig und schön. Wir gingen in die Schule und Mutter half bei den Aufgaben, wir verübten dumme Streiche und Mutter söhnte den Verwalter aus. An Sternenreichen Sommerabenden bestieg Mutter ihr Pferd und wir durften auf unseren Ponys mit ihr zum alten Schäfer reiten. Mutter war wirklich wundervoll!

Der alte Schäfer hatte immer ein Lagerfeuer, da roch es angenehm nach Brand, und es ließ sich daneben so herrlich träumen! Wir lagen dann alle drei um das Feuer, und der Schäfer erzählte von den Geheimnissen und Gesetzen der Pußta. Er war ein weiser, alter Mann, mit hängendem schneeweißem Schnurrbart.

Als wir in die Mittelschule gehen mußten, sagte er zur Mutter:

„Gnädige Frau, schicken Sie die kleinen Herrschaften nicht in die Stadt. Ehrlich und rein zu leben lernt man nur auf der Pußta. Menschen der Stadt sind selten gut.“

Doch Mutter erklärte ihm, das Gesetz schreibt vor, daß wir in die Schule gehen müssen. Der alte Schäfer hatte auch diesmal recht. Lügen konnte ich nicht, bevor ich andere lügen hörte, auch Zwang war mir fremd und, daß man trotz des Zwanges und der Disziplin Unrecht tun kann. Das alles lernte ich in der Stadt.

Es war schrecklich, als Mutter starb. Man holte uns aus der Stadt heim. Sie lag bleich und traurig da und war allein. Wir waren zwölf Jahre alt. Auch der Onkel kam aus der Hauptstadt, jetzt

sahen wir, daß er ein hoher Offizier war. Uns schaute er gar nicht an, er schickte alle Leute aus dem Zimmer und sperrte sich mit der toten Mutter ein. Albert und ich standen vor der Türe und zitterten. Wird er ihr nichts antun? Im Schloßturm schlug die Uhr, ich faßte Alberts Hand und wir stiegen zum Turm hinauf. Aber am halben Weg blieben wir plötzlich stehen, Albert sah mich an...

„Mutter liebte es nicht...“, flüsterte ich, er nickte mir zu, da gingen wir in unsere Zimmer. Ich warf mich auf das Bett und schluchzte laut... bis ich einschlief. Es war schon Abend, als ich jemand an der Türe klopfen hörte. Albert wollte mich sprechen.

„Alma?“

„Ja?“

“Darf ich herein?“ „Ja!“

Lautlos öffnete er und setzte sich an meine Seite.

„Hast du geschlafen?“

„Ja.“ Zum dritten Male sagte ich „ja“, als ob mir das Sprechen schwer fiele. Lange schwiegen wir, da öffnete Albert langsam die Lippen, schaute beim Fenster hinaus und sagte:

„Er ist nicht unser Onkel, er ist unser Vater.“

„Nein!“ rief ich mit grauenerfüllten Augen.

„Doch“, nickte er, „er sagte es mir selbst, als ich wieder zur Mutter gehen wollte.“

„Was hat er so lange bei ihr gesucht? Er tat ihr doch nichts an?“

„Nein, jetzt nicht; aber vor langen Jahren, als er sie verließ ...“

Wieder Schweigen. Die Dunkelheit brach herein, langsam, lautlos, schwer. Auch unsere Umrisse verschwammen leise... Wir gingen traurigen Gedanken nach und nicht konnten wir den fremden Mann verstehen. Mutter konnte man doch nicht verlassen, man mußte abwarten, bis sie einen verließ, so wie jetzt. Sie ist dagewesen, sie schenkte, beglückte, Hebte und ging, als sie gehen mußte.

„Albert?“

„Ja?“

„Ich kann nicht dabei sein.“ „Ich auch nicht.“

„Die Fischerhütte auf der Insel...

„Dorthin wollen wir gehen, Alma.“

Als wir an dem Zimmer, wo Mutter lag, vorbeigingen, schaute Albert hinein und zog mich rasch zurück.

„Vater?“ fragte ich. Er schaute mich groß an, das Wort war neu und fremd. Dann nickte er.

„Ja, er sitzt bei ihr...“

Haus und Hof lagen still und verlassen. Kein Knecht und keine Magd sah es, wie wir die Pferde sattelten und hinausführten. Das Gesinde saß auf der großen Terrasse und sprach von der loten Herrin und von dem Herrn, der doch heimkehrte. An uns dachte niemand ...

Eine Nacht und einen Vormittag verbrachten wir auf der Insel. Albert hatte einen harten Zug um den Mund. Gegen drei Uhr nachmittag saßen wir am Ufer, die baumelnden Beine ins Wasser hängend. Albert zupfte nervös an den Weidenästen. Seit gestern Abend sprachen wir kein Wort mehr. Ich brach endlich das Schweigen.

„Es tut ihm doch auch weh, Albert. Vielleicht braucht er uns ...“

„Mir tut es weh und ich brauche ihn nicht“ — murrte er zornig.

Schweigen... Da brach ein Sonnenstrahl durch die Weiden, und an Alberts Gesicht glänzte eine Träne auf.

„Wenn wir jetzt aufbrechen, kommen wir noch zurecht...“ — begann ich wieder.

„Ich gehe nicht!“

Da stand ich auf, machte aus den Kleidern ein Bündel, holte mein Pferd und sprengte in den Fluß. Am anderen Ufer streifte ich den nassen Badeanzug ab und legte die Kleider an. Dann ritt ich dem Friedhof zu. Am Wege blickte ich zurück und sah Albert im rasenden Galopp heranreiten. Ich hielt an und wartete. Als er mich erreichte, verlangsamte ich den Ritt. Ich sagte kein Wort, schaute ihn auch nicht an, wartete nur, bis sein Pferd neben das meine gelangte. Dann ritten wir gemeinsam weiter. Am Friedhof sprangen wir ab und gingen mit festen Schritten zur Gruft. Der Friedhof war schwarz von dunkelgekleideten Menschen. Schluchzen und Trauer lag in der Luft. Wir bemerkten, daß der strenge Mann dort in der glänzenden Uniform sehr einsam ist. So traten wir ihm rechts und links an die Seite und faßten seine Hände. Sein Griff war fest und warm. Er hob den Kopf und schaute zum Himmel empor. Was er der toten Mutter sagte oder versprach, weiß ich nicht, aber seither haben wir einen guten Vater. Seit Mutters Tod ist er immer mit uns. —

Fünf Jahre lebten wir noch zusammen im alten Herrschaftshaus. Er durchstreifte mit uns die Pußta. An windigen Tagen segelte er mit uns den großen Fluß aufwärts und lag an Sommerabenden an des alten Schäfers Lagerfeuer.

Doch eines Tages mußten wir gehen. Der Krieg erreichte uns. Nur der alte Schäfer blieb dem verlassenen Herrschaftshaus treu. Er ging nicht. Bange Nächte verbrachten wir 2uletzt noch in der Fischerhütte. Dann brachte uns der alte Schäfer, an einem kalten Herbstabend, die Nachricht, daß wir sogar das Land verlassen müssen. Vater reichte ihm zum Abschied die Hand. Der alte Schäfer schaute ihn streng an:

„Gnädiger Herr, sie und die kleinen Herrschaften müssen fest zusammenhalten. Aber wohin immer sie auch kommen mögen, ihre Heimat ist da. Ihre Heimat und ein stilles Grab...“

Da legte ich meine Hand über die der beiden und Albert umfaßte alle drei. Vier Hände griffen ineinander, als wir die Heimat verließen. Ihr Druck ward hart und tat weh wie das wunde, schneidende Herz.

Vater und Albert ruderten über den Fluß, da wartete ein surrender Wagen. Als wir einstiegen, schauten wir noch einmal zurück. Der alte Schäfer löschte vor der Fischerhütte gerade das Feuer aus.

So begann die Zeit unserer Heimatlosigkeit. —

Woher ich kam? Auch ich kam von Osten und war sehr arm, als ich kam. Ich hatte nur zwei Kleider und keine Heimat mehr. Seitdem habe ich mehrere Kleider, aber Heimat habe ich noch immer keine. Denn Kleider sind ersetzbar, die Heimat aber nicht.

Am großen Fluß war meine Heimat. Er war blond und zauberhaft und hieß Theiß. Alles, was ich verlor, ist nicht wichtig, denn sie sind ersetzbar. Wer kann mir aber eine zweite Theiß geben?

So bin ich nach Westen gekommen, in zwei Kleidern und mit der Erinnerung an die Theiß, im Herzen.

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