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MIT DEM VATER

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Oft fühle ich, wie das war, als ich mit Vater ging. Früher Morgen; die Luft ist eiskühl; wir gehen einen Bach entlang in ein Tal und sprechen kein Wort. Es hat so wohlgetan, dieses Schweigen, dieses Rauschen des Gebirgsbaches. Ich ging barfuß, hatte graue Wollstutzen an, die Knöchel, Fuß und Knie freiließen, und kurze Hosen; ich trug einen spitzen Hut mit einer Feder. Vater hatte Geld in der Tasche und einen vollen Rucksack. Zuweilen fragte er mich, ob ich Hunger habe. Wir rasteten hoch oben, wo man die Gletscher sah, und er packte seinen Wunderrucksack aus. Immer sehe ich noch die Dose vor mir; da gab es drei Abteilungen: in einer war das goldengebratene Henderl drin, in einer Salami, und in der dritten Obst. Nach dem Essen rauchte Vater eine Pfeife. Es wurde noch immer nichts gesprochen, und diese Ruhe, dieser Friede, die in mich strömten, machten mich stark für den Kampf, den ich einmal führen sollte. Aber damals war alles noch selbstverständlich und leicht, ich ruhte an seiner Seite, als müsse es immer so bleiben, dieses süße Glück des Geborgenseins. Feiner Wind trieb uns Wasserstaub ins Gesicht, in Glorie stand die Sonne hinter Schleiern.

Ich ging in mein elftes Jahr, und es sollte die erste Gletschertour werden, die ich mit Vater unternahm. Auch Edelweiß hatte ich noch nie gefunden. Und Gletscher und Edelweiß gehörten doch zusammen. Ich fragte also, ob wir auch bestimmt Edelweiß finden würden. Vater meinte — vielleicht—, aber das könne man nie vorher wissen; eher nein als ja. Und er lachte. Ich bedrängte ihn sehr, für mich lag das in seiner Macht, daß ich Edelweiß fand; ganz und gar in seiner Macht. Er aber versprach nichts, nein, das könne er nicht

Ob ich meine Schuhe anziehen wolle? Gleich beginne der Gletscher. Aber das wollte ich nicht. Meine Sohlen waren hart, den ganzen Sommer lang lief ich doch barfuß. Schnupfen kannte ich nur dem Namen nach. Ich ging also weiter mit nackten Füßen, und wie der Wind nun kälter zu wehen begann, mahnte Vater mich keineswegs, die Joppe anzulegen. Oben auf der Höhe bestaunten die Leute uns. und ihrer Ansicht nach konnte ein Kind, das so völlig seinen eigenen Willen durchsetzte, todkrank werden. Ohne Sonnenbrille, ohne Hut und Jäckchen lief ich eine Schutthalde empor, und immer sah ich etwas Weißes leuchten, aber es waren nur Schafgarben. Wie grell die Gletscher blendeten! So nah! Mit blutiggeschundenen Beinen kam ich wieder zum Schutzhaus. Aber Edelweiß hatte ich keines. Ich forderte nun Vater sehr ernst auf, mich dorthin zu führen, wo es wuchs. Er mußte es wissen! Er lachte über mich, wie ich ihn stupfte und zerrte, ausschütten vor Lachen konnte er sich über seine kleine Tochter, die von ihm verlangte, daß hier Edelweiße blühten! Ich sollte doch den Bergführer fragen. Der schob den Kautabak von der einen Wange in die andere. „Ja, mei, wenn ma Glück hat!" sagte er. Er trug Edelweiße auf seinem Hut!

Also, Vater! Nur Glück brauchte man zu haben und Glück hatten wir doch? Es war schönes Wetter, die letzten Wolken verflüchtigten sich, der Wind hatte aufgehört. Er blickte mich lächelnd an mit seinen kleinen, braungrünen Augen. Nun gut, meinte er, morgen könne man es ja versuchen, heute nicht mehr. Ich tanzte umher und schwätzte nicht mehr soviel, trank Himbeerwasser und aß Schnitzel mit Salat.

Ich sah die Nacht; schwarz waren die Felskolosse, aber die Gletscher funkelten grün. Ich ahnte, was Einsamkeit sein kann: höchstes Glück. Aber noch hätte ich nichts zu sagen vermocht. Federleicht schwebte ich über den Graten, und das Freudenfeuer in der Brust schmerzte beinahe.

Am nächsten Morgen weckte mich Vater mit der frohen Botschaft, gleich nach dem Frühstück könne ich noch einmal suchen gehen, er werde mir genau die Richtung angeben. Ja, dort oben mußten sie wachsen, über den Felsen, auf dem Grasband. Ich sprang davon. Jetzt war ich ganz überzeugt, daß ich Edelweiße finden werde. Mir klopfte das Herz — das Finden dieser Blume bedeutete soviel für mich! Ja, ich sah sie schon dort oben stehen, geisterhaft weiß, völlig anders als alle anderen Blumen, keine gewöhnliche Blüte, sondern das geheimnisvolle Leben des Berges selbst. Aber überall gab es nur Schafgarben! Trotzdem zweifelte ich keinen Augenblick, daß ich Edelweiße finden werde.

Dann kam ein Fleckchen smaragdener Wiese. Ich mußte den Atem anhalten — hier standen sie, leuchtend, auf sanft schwankenden Stengeln. Ich kniete nieder, benommen und mit zugepreßter Kehle. Heute, nach Jahrzehnten, weiß ich noch, wie mir zumute war und wie mir diese Blumen aus rätselhaften Tiefen zu. wachsen schienen. Ich wunderte mich, wie leicht sie zu pflücken waren! Sie konnten kaum eingewurzelt sein! Jetzt sprang ich abwärts, voll Ungeduld die Blumen dem Vater zu zeigen. Ich hielt sie ihm hin. und er lachte und strich mir übers Haar. Jahre später erzählte er mir, daß er dem Bergführer die Edelweiße abgekauft und dort hinaufgestiegen war, um sie einzupflanzen.

Wie oft muß ich daran denken, wenn ich mich mühe und plage und vieles unerreichbar bleibt: niemand macht mir nun das Unmögliche möglich: Vater ist nicht mehr.

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