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ABSCHIED VOM VATER

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Er war eigentlich nie krank gewesen, doch war er von Jugend auf recht nervös, und durch dauernde geistige Uberanstrengung hatte sich sein Zustand verschlechtert Mitten in einem geruhsamen Urlaub stellten sich Kreislaufstörungen ein, die zur Heimreise zwangen. Mit „Herzinfarkt“ kam es zur Einweisung in ein Krankenhaus. Bald mußten wir erkennen, daß der liebe Patient zeitweilig „woanders“ war und unter unguten Vorstellungen zu leiden schien.

Hochgradige Arteriosklerose des ganzen Körpers, besonders des Hirns, war die endgültige Diagnose, und niemand konnte uns sagen, ob dies bei so spärlicher Nahrungsaufnahme einen längeren oder kürzeren Weg zum Ende bedeute oder ob es auch wieder eine Besserung gäbe.

Vater hatte kein Fieber. Er lag bei Tag ruhig in seinem Bett, und wir hielten ihm die hochsommerliche Hitze wie auch den Durst, so gut wir konnten und durften, fern. In den Nächten aber ruderte er mit den Armen und Beinen umher; sein Nervensystem wollte ihm nicht mehr gehorchen. Daran änderten auch Medizinen und Injektionen nicht viel. Wenn man ihn fragte, nannte er sein Befinden „gut“, und er schien zufrieden zu sein und nichts von seiner Unruhe zu verspüren. In den Nächten wachten wir abwechselnd an seinem Bett. Und so war ich als sein Ältester wieder einmal nachts in der Nähe, um die Mutter zu entlasten.

Ich gab ihm zu trinken, als die Nacht ihr ärgstes Dunkel verlor. Und da er den Namen Milojevic nannte, meinte ich: „Das war doch dein Major bei den Bosniaken.“

„Sie kennen meine Bosniaken?“ jubelte er, während ich über das „Sie“ der Verkennung erschüttert war. „Das waren brave Kerle! Wer bist du denn eigentlich?“ fragte er weiter.

„Ich bin der Robert.“

„Mein Bruder doch etwa nicht!?“

„Nein, dein Sohn.“

„Mein Sohn! Der Otto! So bist du doch noch einmal zu deinem Vater gekommen! Mein armer Bub! So jung bist du von uns gegangen!“

Ich war ergriffen und bestürzt zugleich von der Wendung unseres Gespräches. Er verwechselte mich mit meinem gefallenen jüngsten Bruder, aber ich mußte mitspielen.

„War's schwer“, fragte er weiter mit langsamer Zunge, „wie es dich getroffen hat? Wirklich ein leichter Tod! Wie man halt so sagt, um die Angehörigen zu beschwichtigen! Aber kein Tod ist leicht. Ich weiß Bescheid.“

Ich drückte die Hände des Vaters. Er zog mich mit unvermuteter Kraft an sich und küßte mich herzlich: „Ein letztes Mal noch, Bub! Nein, daß ich das doch erlebt hab'l“

Der Vater legte sich wieder tief ins Kissen zurück, schluchzte kurz auf, schlief ruhig durchatmend ein und ruhte still und gelöst dem hellen Tag entgegen.

Erschüttert lag ich schlaflos auf dem Sofa und gönnte beiden diesen Liebesbeweis. Dem toten Bruder, der irgendwo im Sumpfland Weißrußlands den letzten Schlaf tat, und dem Vater auf seinem Krankenlager, dem der fernste Sohn der nächste sein mußte und der nun mit einem Lächeln auf den Lippen selig zu schlummern schien.

Am Morgen sagte er: „Denkt euch, heute nacht war der Otto bei mir!“ Die Mutter sah mich groß an, denn ich hatte es noch nicht über mich gebracht, ihr unser Nachtgespräch zu erzählen. Vaters Zustand schien ein wenig gebessert.

Doch dies war nur eine Täuschung. Der Verfall schritt unmerklich weiter, und wenige Tage später war Vater tot. Er war seinem Otto zu den Ahnen ins Jenseits gefolgt, deren Lebenswegen er seit vielen Jahrzehnten so liebevoll nachgespürt hatte.

Diese Nachtszene war mein Abschied von meinem Vater gewesen, wenn es auch im Augenblick von mir nicht so empfunden worden war. Im Grunde war der Vater genauso einsam aus dieser Welt gegangen wie neun Jahre zuvor unser Bruder Otto. Mit ihm fühlte ich mich zu jener Stunde im Morgengrauen mit gesegnet, denn die Liebe ist überall.

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