6864235-1977_48_10.jpg
Digital In Arbeit

Ein Lebenslauf von heute

19451960198020002020

Fast unbeachtet von der deutschen Literaturkritik und inmitten des lautstark inszenierten Rummels um den „Butt“ von Günter Grass ist ein Buch auf den Markt gekommen, das mehr Anteilnahme und Interesse verdient hätte! „Der dreißigjährige Friede“ des engagierten Autors Peter O. Chotje- witz. Schade, denn gerade dieser Roman leistet einen Beitrag zur Geschichte des Nachkriegsdeutschland, an dem man nicht so einfach vorbeilesen sollte.

19451960198020002020

Fast unbeachtet von der deutschen Literaturkritik und inmitten des lautstark inszenierten Rummels um den „Butt“ von Günter Grass ist ein Buch auf den Markt gekommen, das mehr Anteilnahme und Interesse verdient hätte! „Der dreißigjährige Friede“ des engagierten Autors Peter O. Chotje- witz. Schade, denn gerade dieser Roman leistet einen Beitrag zur Geschichte des Nachkriegsdeutschland, an dem man nicht so einfach vorbeilesen sollte.

Werbung
Werbung
Werbung

Chotjewitz hat sich nie gescheut, sich politisch zu bekennen, aber nie in den Dienst vordergründiger Propaganda gestellt. Sein literarisches Werk behielt stets Oberhand vor Kolportage und schlechter Agitation. Schon der bitter zynische Titel „Der dreißigjährige Friede“ weist darauf hin, daß es gar nicht so friedfertig zugehen wird. Gemeint sind die dreißig Jahre seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges.

Erzählt wird der Roman aus der Perspektive eines jungen Arbeiters, der mehr unbewußt als bewußt reflektierend diese dreißig Jahre miterlebt hat und erst in den letzten Jahren ein soziales Verständnis entwickelte. An Hand des Schicksals einer kleinen Handwerkerfamilie wird der Wiederaufbau Deutschlands geschildert. Der Vater ist Installateurmeister und betreibt so recht und schlecht sein eigenes Geschäft. Wirklich gut geht es den Leuten nie. Auch in der Zeit des Wirtschaftswunders nicht. Da hat der Vater schon den Anschluß verpaßt und kommt mit den neuen Erfordernissen des freien Marktes nicht mehr zurecht.

In dieser kleinbürgerlichen Atmosphäre wächst Jürgen auf, geprägt von den Dünkeln und Frustrationen seiner Eltern, die er nicht überwinden kann. Er wird später einmal das Geschäft übernehmen, sein Weg ist klar vorgezeichnet. Seine zaghaften Ausbruchsversuche - Jürgen interessiert sich für Musik und möchte studieren - werden abrupt gestoppt. Er muß den vorgegebenen Platz ausfüllen, ob er will oder nicht. Er lernt früh, Gefühle und Interessen zu unterdrücken, ist verklemmt, schüchtern, Sinnlichkeit verkümmert, Frauen sind für Jürgen Objekte, Spielzeug, Projektionen des eigenen Versagens.

Doch plötzlich verändert sich sein Leben. Der Vater erkrankt, das Geschäft wird aufgegeben, Jürgen verdingt sich als Hilfarbeiter in einer Fabrik. Der Traum vom scheinbar freien Unternehmer ist vorbei. Er hat jetzt sogar das Gefühl, mehr Freiheit zu be sitzen als vorher. Jetzt hat er eine geregelte Arbeitszeit, kann konsumieren, sich „etwas leisten“, sogar auf Urlaub fahren.

Auf dieser Urlaubsreise verliebt er sich in eine Italienerin. Sie ist Kommunistin und begleitet ihn heim nach Deutschland. Jürgen beginnt, sich zu politisieren. Die Fabrik soll geschlossen werden, er will dagegen auftreten, zaghaft, unter großen Widerständen. Sein Freund zündet die Fabrik an und Jürgen übernimmt die Verantwortung, stellt sich der Polizei. Im Gefängnis schreibt er dann seine Aufzeichnungen. Soweit das Handlungsgerüst.

Chotjewitz schreibt sehr ehrlich, den größten Teil des Buches zumindest. Bis auf das Schlußkapitel stimmen seine Analysen, da schreibt Chotjewitz hautnah, trifft mit jedem Satz, charakterisiert das Elend der Nachkriegsgeneration, • die sich nur mühsam vom Bild der Vergangenheit befreien kann, die Last der Väter abschütteln will und doch immer wieder scheitert. Eine Generation, die unter Belastungen und Schuldgefühlen aufwächst und noch nicht fähig ist, nach der neuen Freiheit zu greifen. Gegen Ende läßt der Autor nach, flüchtet in eine zu bequeme Fiktion, läßt das Reale in Illusion Umschlagen. Da bricht die Psychologie unvermittelt ab, wird der unpolitische Arbeiter plötzlich zu einem bewußten Menschen. Der Autor überspringt eine Stufe in der Entwicklung seines Helden, man hat den Eindruck, er wollte den Roman so schnell wie möglich beenden, selbst auf Kosten der Glaubwürdigkeit. Ein Happy End, das nicht stimmt, konstriert ist. Schade.

Trotzdem ein hervorragend gestaltetes Protokoll einer Generation, das unter die Haut geht, trifft, anklagt. Chotjewitz schreibt aggressiv, spontan, vermeidet pseudointelektuelle Reflexionen und Entschuldigungen, attackiert durch Handlung. Ein neuer Realismus scheint sich anzubahnen.

DER DREISSIGJÄHRIGE FRIEDE, von Peter O. Chotjewitz, Claasen- Verlag, Düsseldorf 1977, 320 Seiten, öS 215,60.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung