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Ein Opem-Picknick

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Wenn an heißen Sommernachmittagen auf Bahnsteig 13 der Londoner Victoria Station Herren im Smoking und Damen im Abendkleid gesichtet werden, deutet das auf keinen Staatsbesuch. Es ist bloß wieder einmal das besonders extravagante „Glynde- boürne Opera Festival” ausgebrochen, die Erfindung eines exzentrischen britischen Adeligen, der eine um 18 Jahre jüngere Opernsängerin geheiratet hatte und auf seinem Landsitz 75 Kilometer südlich von London ein bescheideneres, aber auch exklusiveres Pendant zu Salzburg und Bayreuth ins Leben rufen wollte.

Seit 1934 stoppt also von Anfang Mai bis Anfang August an jeweils 62 Spieltagen der Schnellzug vonLondon nach Bournemouth in der winzigen Station Glynde, durch die er sonst arrogant hindurchdonnert; der Bahnsteig ist so kurz, daß man nur aus den vordersten vier Waggons aussteigen kann. Wenn der Zug Verspätung hat, beginnt auch die Vorstellung später. Das Publikum kommt selbstverständlich im „evening dress, formal or informal”, was die Erlaubnis bedeutet, statt des schwarzen Smokins einen andersfarbigen oder auch einen Samtanzug zu tragen, ein erheblicher Teil des Publikums hat als eigenartiges Accessoire einen Picknickkorb am Arm. Denn wer nicht schon im März einen Tisch mit Kerze nebst Menü postalisch vorbestellt hat (das Formular verzeichnet 5 Speisen pro Gang und 42 Weinsotten zur Auswahl), muß sich mitdem Rasen begnügen. In der Pause, von sieben bis halb neun, werden auf dem Gras des privaten Landsitzes Lachs- und Kaviarbrötchen mit viel Champagner und Tee hinuntergespült, und sollte nachher ein Krümel oder gar eine Papierserviette zurückgeblieben sein, stammt ein solches skandalöses corpus delicti mit Sicherheit von einem Ausländer.

Auch an die Sänger des Festivals werden besondere Anforderungen gestellt: Sie brauchen noch nicht berühmt zu sein, müssen aber - neben stimmlichen Qualitäten - unbedingt gutes Aussehen mitbringen, so wollte es der Gründer, und sein Sohn hält eisern an der Tradition fest. Ein anderer Grundsatz des Festivals ist es, zwar mit in ausufernder Probenarbeit ausgefeilten Inszenierungen aufzutrumpfen, nicht unbedingt mit großen Namen. Glynde und seine 820-Plätze-Oper haben den Aufstieg vieler Sänger gefördert: Berganza, Caballė, Freni, Paskalis, Pavarotti - einige berühmte Namen, deren Träger hier auftraten, als sie noch nicht so berühmt waren wie heute.

Das Glyndebourne Festival hat auch ein Lieblingswerk: „The Rake’s Progress” von Strawinski. Das Weęk wurde hier öfter aufgeführt als irgendwo sonst. Außerdem werden heuer eine enthusiastisch gefeierte Neuinszenierung der „Zauberflöte”, „Cosi fan tutte”, „Don Giovanni” und „Boheme” gespielt. Musikalischer Leiter der Festspiele ist kein Geringerer als Bernhard Haitink, im Orchestergraben sitzen die Mitglieder des London Philharmony Orchestra, jedes Jahr werden ein bis zwei Produktionen im TV übertragen.

Zwei Umstände machen, abgesehen vom künstlerischen Rang, diese Festspiele bemerkenswert. Der eine: Sie leben ohne einen Shilling aus öffentlichen Mitteln. 65 Prozent des Etats werden durch den Kartenverkauf her eingebracht (die Höchstpreise liegen unter 500 österreichischen Schilling), bereits im Mai sind meist alle Vorstel- lungen ausverkauft, selbst der Ex- Premier, Segelsportler und Amateurdirigent Edward Heath mußte sich daher bei der Strawinski-Premiere mit einem schlechten Platz begnügen. Für den finanziellen Abgang kommen private Spender und Firmen auf.

Der andere Aspekt: Im September und Oktober verwandelt sich das „Glyndebourne Opera Festival” in die „Glyndebourne Touring Opera” und geht mit den in Glynde gezeigten Produktionen und einem anderen Orchester (der „Bournemouth Sinfonietta”) auf Reisen in englische Städte, wobei jüngere Sänger eine Chance bekommen. Wenn sie sich bewähren, dürfen sie in Glynde selbst auftreten - und eines Tages vielleicht in Paris, New York oder Wien.

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