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Unter fremder Flagge…

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Zum Abschluß seiner Tätigkeit als künstlerischer Berater des Orchestre de Paris wählte Herbert von Karajan das Verdi- Requiem, um es an drei Abenden in Paris, im Theatre d’is Champs Elysėes, und zum letzten Male in Rouen mit dem Orchestre de Paris, dem Wiener Singverein und den vier Starsolisten Mirella Freni, Christa Ludwig, Carlo Cossuta und Nicolai Ghiaurov aufzuführen.

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Zum Abschluß seiner Tätigkeit als künstlerischer Berater des Orchestre de Paris wählte Herbert von Karajan das Verdi- Requiem, um es an drei Abenden in Paris, im Theatre d’is Champs Elysėes, und zum letzten Male in Rouen mit dem Orchestre de Paris, dem Wiener Singverein und den vier Starsolisten Mirella Freni, Christa Ludwig, Carlo Cossuta und Nicolai Ghiaurov aufzuführen.

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Die Pariser Reise des hundertfünfzigköpfigen Singvereins und seiner Begleiter begann unter einem sonderbaren Stern: Man fuhr am Westbahnhof in drei reservierten Waggons des Mozart-Expresses ab. In Salzburg, während des „kurzen Aufenthaltes“ kam ein aufgeregter Herr auf einen der unsiigen zugelaufen und ergoß einen Wortschwall auf f ranzösisch über ihn. Als der ausgezeichnete Bassist bedauernd den Kopf schüttelte und damit bekanntgab, daß er kein Wort verstehe, war der Herr wie vom Blitz getroffen und wies auf die Zettel der Waggons: Reservė poul 1’Orchestre de Paris. So begann man also unter fremden Fahnen zu kämpfen und zu siegen…

Die drei Pariser Konzerte waren bereits Wochen vorher bas zum letzten Platz ausverkauft und dennoch standen noch Hunderte mehr als drei Stunden vor den geschlossenen Toren des Theaters vor der Vorstellung geduldig da, in der Hoffffnung, auf der dritten Galerie doch noch für vier Francs Einlaß zu bekommen, was allabendlich nur einigen gelang. Einen Tag vor der Galapremiere kam es zu einem großen, regelrechten Skandal. Die Direktion des Orchestre de Paris versprach vor Monaten der Jeunesse Musicale de France, es ihnen möglich zu machen, für drei Francs (= S 13.50) die letzte Probe — mindestens eine volle Stunde — mithören zu können. Dies verkündeten sie dann auch in allen ihren Publikationen, so daß das Haus am 21. Juni abends um halb sieben Uhr mit an die 2000 Zuhörern gefüllt war. Man bekam dm Foyer von äußerst freundlichen Jugendlichen gratis eine Mappe — beim öffnen derselben war man nicht minder erstaunt, als man es unter dem Christbaum wäre, wenn einem auf der ersten Seite einer Michelangelo-Biographie die Mona Lisa entgegenlächeln würde: hier sah man das Bild Leonard Bernsteins. In Ermangelung einer Karajan-Aufnahme wird nämlich für Bernsteins Aufnahme vom Verdi-Requiem Reklame gemacht. Das Konzert dauerte dann nach überpünktlichem Beginn ganze fünfundzwanzigein- halb Minuten. Zu hören waren die beiden Schlußsätze und dann für das Fernsehen, quasi als Draufgabe, das Sanctus von drei Minuten. Freundlich lächelnd entließ Karajan sein Ensemble und schon während der letzte Herr vom Podium verschwand, verlangte das zu 80 Prozent aus Jugendlichen bestehende Publikum (einige von 300 km Entfernung herangereist) die Fortsetzung des Konzertes. Es wurde ihnen danach die Rückzahlung der Eintrittspreise an- geboten, dies wurde aber nicht angenommen. „Wir wollen das Requiem, wir wollen kein Geld.“ Die schon oben erwähnten Programmappen wurden aufgerissen und die einzelnen Blätter durch die Luft geworfen. Später aber warf man auch Stühle vom Parterre auf die Bühne. Nach einer Stunde zog eine Gruppe vor Karajans Hotel, das Plaza Athėnėe, und nachdem die Polizei sie zerstreut hatte, empfing Karajan eine fünf- köpfige Jugenddelegation, denen er als Entschädigung anbot, für die Jeunesse die Generalprobe seines nächsten Konzertes in Aix en Provence (am 10. Juli), diesmal unentgeltlich abzuhalten (40. Sinfonie von Mozart, Tschaikowsky Klavierkonzert mit Alexis Weissemberg).

Der souveräne Orden der Malteserritter veranstaltet jährlich einen Galaabend mit anschließender Tombolaverkündigung, um die Kosten ihrer Spitäler teilweise zu decken: sie mieteten das Haus vom Orcheste de Paris für den ersten Verdi- Requiem-Abend, den sie zu normalen Preisen erhielten, tun dann für die Sitze das Doppelte zu verlangen.

Die Auffahrt vor dem Theater war märchenhaft: roter Samtteppich bis zur Straße, Blumen in allen Farben, kugelrunde Belu chtungsäampen der Jahrhundertwende. Das Festprogramm in rot-gold gebunden und von jungen Damen und Herren der Pariser Gesellschaft verkauft, kostete 40 Francs (225 Schilling) und fand guten Absatz. Es erschienen als „große Gäste“ Georges Duhamel, der Kultusminister, die „alte Begum“, in einen 1001 Nachtshawl gehüllt und Prinzessin Irene von Griechenland. Man sah die sündteuersten, aber auch sehr schönen Abendkleider, die blutroten Uniformen der Malteserritter belebten das Bild — die junge Marine stand Spalier—under Ehrenloge saß das diplomatische Corps — die Gattinen der Afrikabotschafter mit phantastischen Kopfbedeckungen, glücklich lächelnd.

Der Erfolg war frenetisch — das ganze Ensemble wurde bejubelt. Die französische Presse bezedchnete in Titeln die Aufführung als „das größte musikalische Ereignis der Saison“. Jean Cotte im France Soir schreibt unter anderem „Ich gestehe es ein, in den letzten Monaten nichts schöneres und perfekteres gehört zu haben, eine solche Summe von Begabungen vereint zu sehen, ist eine ganz außergewöhnliche Angelegenheit“. Er hebt auch besonders den auswendig Singenden Singveredn hervor. Und zum Schluß: „Mit einem solchen Chef und solchen Interpreten hat das sehr schön spielende Orchestre de Paris den Ton seiner größten Abende hervorgekehrt. Das ist hohe internationale Klasse.“ Und Le Monde: „Es gibt wenig Konzerte, wo die Zeit vollständig verschwindet. Hier war nichts mehr da, als die sehr menschliche und vornehme Medidation über den Tod, wo die Stimmen sich verflechten, sich aneinander stärken, mit einer großen Geste, wie am Abend einer Totenwache.“

Paris’’atmet den Sommer aus allen Poren. Es blüht und riecht im Luxembourg, in den Gärten der Tuilerien und so gesteckt voll auch das kleinste Hotel ist, auf den großen Avenuen gibt’s kein Gedränge. Die Hot-pants sind an einer Hand zu zählen — die jungen Herren sind korrekt gekleidet, tragen dunkle, stark taillierte Anzüge — Paris hat überhaupt keine Hippies! Das Leben ist sündteuer, fast unerschwinglich, und doch ist alles bummvoll. Die Theatersaison liegt im Sterben, doch die Kinos Mühen: an den Champs Elysėes zeigt man die preisgekrönten Filme von Cannes. — „Der Tod in Venedig“, „Der Hauch ins Herz“. Sacco und Vamzetti, aber auch wieder den Leoparden. An jedem Eck werden auf Rdesenposters die Kunstausstellungen verkündet: Paul Klee, Monet, Rouault, die Japaner, Mexikaner, Polynesen.

Wie immer in Paris — man ist 20 Stunden unterwegs und hat das quälende Gefühl, nichts gesehen, nichts gehört, alles versäumt zu haben…

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