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Ein zeitloser Avantgardist

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Dieses Jahr wäre Yvan Goll achtzig geworden. Er wurde 1891 in St-Die im französischsprachigen Lothringen geboren, wuchs in Metz auf, studierte in Straßburg, Leipzig und Berlin, verbrachte den ersten Weltkrieg meist in der Schweiz, in Zürich, Lausanne und Genf. Nach 1918 verlegte er seinen Wohnsitz nach Paris und blieb dort bis 1940 im Zentrum der Avantgardisten und Surrealisten. Als die Katastrophe des Faschismus über die westliche Welt hereinbrach, ging er nach den Vereinigten Staaten, lebte dort etwa sieben Jahre und kehrte, ein todkranker Mann — er litt an chronischer Lebkämie —, nach der Befreiung Frankreichs zuerst ins Elsaß und dann nach Paris zurück, wo er im Jänner 1950 im amerikanischen Hospital in Neuilly bei Paris starb. Sein Leben wurde mit kleineren Unterbrechungen von seiner Gattin Claire, die eine Dichterin von ausgeprägter Eigenart ist, geteilt. Sie überlebte ihn und gibt sein Werk aus dem immens großen Nachlaß heraus.

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Dieses Jahr wäre Yvan Goll achtzig geworden. Er wurde 1891 in St-Die im französischsprachigen Lothringen geboren, wuchs in Metz auf, studierte in Straßburg, Leipzig und Berlin, verbrachte den ersten Weltkrieg meist in der Schweiz, in Zürich, Lausanne und Genf. Nach 1918 verlegte er seinen Wohnsitz nach Paris und blieb dort bis 1940 im Zentrum der Avantgardisten und Surrealisten. Als die Katastrophe des Faschismus über die westliche Welt hereinbrach, ging er nach den Vereinigten Staaten, lebte dort etwa sieben Jahre und kehrte, ein todkranker Mann — er litt an chronischer Lebkämie —, nach der Befreiung Frankreichs zuerst ins Elsaß und dann nach Paris zurück, wo er im Jänner 1950 im amerikanischen Hospital in Neuilly bei Paris starb. Sein Leben wurde mit kleineren Unterbrechungen von seiner Gattin Claire, die eine Dichterin von ausgeprägter Eigenart ist, geteilt. Sie überlebte ihn und gibt sein Werk aus dem immens großen Nachlaß heraus.

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Yvan und Claire gehörten zur Generation der Expressionisten, die durch das Erlebnis des ersten Weltkrieges und die Opposition dagegen frühzeitig zu einem weltverbrüdernden Pazifismus kamen. Als sie einander in der Schweiz 1916 kennenlernten, im Kreise von Romain Rolland und Henri Guilbeaux, in Lausanne und Genf, hatten sie beide schon ihre Erstlingswerke geschrieben. Eine Dichtung Yvans, das „Requiem für die Gefallenen Europas“, das zuerst auf Französisch erschien, vermittelte die Freundschaft, die mehr als 30 Jahre andauerte. Diese Freundschaft war nicht immer einfach, und es gab auf beiden Seiten ablenkende Versuchungen. Bald zu Beginn nämlich entdeckte Claire ihre Zuneigung für den Dichter Rainer Maria Rilke und verbrachte mehrere Wochen 1918 und noch einmal 1920 mit ihm, bis Yvan Goll ihr ein Ultimatum: „Rilke oder ich“ stellen mußte. Sie entschied sich dann für den jüngeren Goll und hat es sicher nie bereut. Sie heirateten Standesamtlich 1921.

Yvan Goll ist ein Pseudonym, von Geburt hieß er Isaak Lang, ein früheres Pseudonym unter dem sein Gedichtzyklus: der „Panamakanal“ erschien, war Iwan Lassang. Der Name Goll wurde möglicherweise aus Wedekinds Erdgeist entlehnt. Beide standen dem jungen Expressionismus, der sich um Kurt Wolff und seine Sammlung „Der Jüngste Tag“ zentrierte, nahe. Yvan ist in fast allen expressionistischen Jahrbüchern und Sammlungen vertreten. In Pinthus: „Menschheitsdämme rung“ findet sich folgende autobiographische Notiz von ihm:

„Iwan Goll hat keine Heimat, durch Schicksal Jude, durch Zufall in Frankreich geboren, durch Stempelpapier Deutscher. Iwan Goll hat kein Alter: Seine Jugend wurde von entbluteten Greisen aufgesogen, den Jüngling meuchelte der Kriegsgott, aber um Menschen zu werden — wie vieler Leben bedarf es?“

Seine früheren Dichtungen waren vorwiegend deutsch geschrieben, sowohl die Lyrik als die ersten expressionistischen und, wenn man will, surrealistischen Dramen „Methusalem“ und „Melusine“, die sich einer erstaunlichen Auferstehung im Nachkriegsdeutschland von 1950 und in der Gefolgschaft der Brecht- Renaissance erfreuten. Mit seiner Wendung nach Paris überwiegt dann das Französische als Dichtersprache, er versucht erfolgreich den deutschen Expressionismus mit dem französischen Surrėalisme in der Tradition von Guillaume Apollinaire zu verbinden. Dabei lebte er in einiger Entfernung von der anderen Gruppe der Surrealisten, die sich um Andrė Breton, Ėlouard, Soupault und Aragon scharten. 1924 schreibt er sein eigenes Manifest „Surrėalisme“ und gibt es in einer Zeitschrift gleichen Namens, die nur einmal erscheint, heraus. Auch wendet er sich frühzeitig dem Film zu, ist besonders von Chaplin beeinflußt und schreibt eine Szenenfolge: „Chapliniade“ sowie eine Reihe von Dramen unter dem Titel „Le Nouvel Orphėe“. Dann folgen einige Romane im surrealistischen Stil, die „Eurokokke“ und der bekannteste „Le microbe d’or“, die Geschichte seiner habgierigen mütterlichen Familie. Der zweite war von ihm auf Französisch geschrieben, dessen er sich seit 1924 bis kurz vor seinem Tode bediente. In Paris entstehen vor allem eine Reihe Dialogbände zusammen mit Claire: „Les poėmes d’amour“, „Poėmes de la jalousie“ und. „Les poėmes de la vie et la mort“. Die Golls sind das klassische poetische Liebespaar ihrer Zeit, ihre Gedichtbände wurden von Maillot, Chagall, Picasso und Delau- ney illustriert, sie werden immer wieder gemalt und gezeichnet, von den Künstlern des Montparnasse.

Seit der Mitte der dreißiger Jahre konzentriert sich Yvan auf ein großes Versepos „Jean sans Terre“ („Johann ohne Land“), die Geschichte eines Abenteurers und Weltenbummlers, eines Ahasver und zum großen Teil auch die Geschichte von Yvan Golls eigenem Leben. Das Werk wird über das Exil hinaus fortgesetzt, „Jean sans Terre“ kommt wie Yvan Goll nach Kuba und nach Manhattan. Bis 1939 waren schon drei Bücher dieses Epos abgeschlossen, es wurde 1963 vollständig in einer vorbildlichen kritischen Edition der Berkeley series of modern

Philology (zweisprachig) von Francis Carmody herausgegeben. Das Werk zeigt viele Einflüsse; manche gehen bis auf Heines Nordseebilder und Bimini zurück.

Die Besetzung Frankreichs und die abenteuerliche Flucht über Habana nach New York bedeutete eine wesentliche Zäsur in Yvan Golls Leben. Vollkommen neue Motivkreise tauchen auf, die tropisch westindische sowie die amerikanische Landschaft und die Welt der Indianer und ihrer Legenden. Ein Monat in Habana im Frühjahr 1940, wo ich die Golls zuerst kennenlernte, genügte, um seine Begeisterung für die tropische Landschaft wie für das soziale Problem der Insel zu wecken. Das geht bis zu den Gedichten über die Calle Virtudes, der fast ironischsymbolisch klingende Name der Bordellstraße Habanas. In New York leben die Golls dann ganz im Kreise der europäischen Emigration. Yvan gibt 1943 bis 1945 eine eigene französische Zeitschrift „Hemispheres“ heraus, zu der er auch großzügig seine emigrierten Kollegen wie Andrė Breton und Ėlouard als Mitarbeiter einlädt. Er selbst schreibt sehr schöne Gedichte der Erinnerung und der Loyalität an Frankreich, wie „La Croix de Lorraine“, und die „Galėre Paris“, die Claire meist ins Deutsche überträgt. Sie nehmen an den Jours Fixe im Hause des Malers Moise Kisling teil, aber sie geben auch ihre eigenen Empfänge in ihrem hübschen Flat in Brooklyn Heights, der zweiten Künstlerkolonie von New York.

Schon 1944 bricht die schwere Krankheit, die chronische Leukämie bei Yvan aus, er erfährt frühzeitig idurch eine Indiskretion der behandelnden Ärzte von seinem Todesurteil, aber das steigert nur seine Schaffenskraft und Energie in den folgenden fünf Jahren des Leidens ins Übermenschliche. Er schreibt bis zum letzten Atemzug, zuletzt auf Hospitalbetten und Krankenlagern. 1947 kehrt er mit Claire in das befreite Frankreich zurück, und nun entwickelt sich seine lyrische Produktion in Fortsetzungen seiner alten surrealistischen Position zu einer ganz eigenen mystischen Metaphorik. Im Straßburger Hospital bricht das Deutsch seiner Jugenddichtung in ihm noch einmal als

Kunstsprache durch. Nun entstehen erschütternde Gedichte, die meist von Claire in posthumen Sammlungen unter Titeln wie „Traumkraut“, „Neila“ und „Abendgesang“ erschienen. Hier zeigt seine Sprache die letzte Vergeistigung und Verfeinerung, seine Metaphern wie die der blaublütigen Rose, der Schneemusik oder der Sprengung einer Dotterblume zeugen von letzter Kühnheit.

An seinem Sterbelager im amerikanischen Krankenhaus in Neuilly lernt er noch wenige Monate vor seinem Tode den dreißig Jahre jüngeren Dichter Paul Cėlan kennen, der sich aus dem europäischen Kriegswirrwarr nach Paris gerettet hatte. Cėlan besucht ihn fast täglich. Goll findet ihn begabt, wünscht ihn sogar zu adoptieren, und von hier ergeben sich wohl manche Einflüsse und Beziehungen auf das Werk des Jüngeren, die später zu schweren Mißverständnissen, Komplikationen und sogar Plagiatsvorwürfen von Seiten Claires und anderer führten, wobei die Darmstädter Akademie für Dichtung eine etwas unglückliche und zweideutige Rolle spielte. Zuerst nämlich schützte man Cėlan, gab ihm den Büchner-Preis und erblödete sich nicht, den totkranken Yvan des Plagiats zu zeihen, dann acht Jahre später revidierte man das Urteil, gab Claire für ihre Briefausgabe den Büchner-Preis und rehabilitierte sie vollkommen.

Cėlan war diesem polemischen Streit nicht gewachsen und litt unter schwerstem Verfolgungswahn. Sein trauriges Ende in der Seine im letzten Jahr mag noch eine Folge dieser Zeit sein. Es ist schwer, den wirklichen Tatbestand festzustellen. Unsere Anschauung kt, daß man es wohl nicht mit einem direkten Plagiat, eher mit einer Art dichterischer Osmose, einer Beeinflussung durch Ton und Stil, die dann allerdings bei Cėlan später sehr selbständig fortgeführt wurde, zu tun hat. Im Mittelalter war so etwas gang und gäbe. Metaphern sind noch kein Privateigentum und dennoch klingt die berühmte „Todesfuge“ von 1948/49 stark an Yvan Golls „Chant des In- vaincus“ beziehungsweise „Lied der Unbesiegten“ von 1942 an, veröffentlicht zuerst in New York, da es die Metapher der Vache misėre, und der schwarzen Milch des Elends lange Jahre vor Celans oft zitiertem Gedicht enthielt. (Und Golls Gedichte waren frei zugänglich.) Der Streit scheint einer der tragischen Konflikte der modernen Literaturgeschichte zu sein und hat sicher beide Teile geschädigt.

Claire Goll hat nach Yvans Tod verschiedene Sammelausgaben veranstaltet, die umfangreichste wohl die bei Luchterhand von 1960, sie sind herzlich unphilologisch, und eine kritische Goll-Ausgabe, ähnlich wie sie für Trakl existiert, wäre wohl für die Lyrik erwünscht. Auch sonst sind aus der Spätzeit noch wesentliche, oft zweisprachige Ausgaben der Gollschen Gedichte erschienen, wie die „Pariser Georgika“, der „Mythus vom durchbrochenen Felsen“, die „Malayischen Liebeslieder“ und neuerdings die „Lackwanna Elegien“, mit einer englischen Übertragung des Dichters Kevin McKinnel. Claire hat die meisten der Gollschen Spätgedichte ins Deutsche übertragen, doch gibt es auch eine zweite Übertragung der „Malayischen Liebeslieder“ von Yvans zeitweiliger Freundin, der Dichterin Paula Ludwig.

Yvans Grabstätte ist von Claire gut betreut auf dem Pere Lachaise in der unmittelbaren Nachbarschaft von Chopin, den er sehr liebte und gern als Pianoamateur spielte, sie ist mit der bekannten Zeichnung Yvans und Claires von Chagall geschmückt. Der große Nachlaß aber, mit viel Ungedrucktem und den zahlreichen Bildern der berühmten Künstler der Zeit, ist von Claire dem großen literarischen Archiv, dem Schiller- National-Museum in Marbach bestimmt worden. Heute behütet sie alle diese Schätze noch in ihrer hübschen Wohnung in der Rue Vaneau in Paris und erhält dafür eine Lebensrente. Zur Zeit schreibt sie ihre Memoiren, die ein wichtiges Buch zur literarischen Zeitgeschichte werden dürften.

Man beginnt erst heute, zwanzig Jahre nach Yvan Golls Tod, seine Bedeutung für die Entwicklung der modernen Dichtkunst, vor allem der Lyrik zu erkennen, seine prophetische Voraussicht, wie seine Vorformung neuer Kunst- und Stilgattungen als die eines echten Avantgardisten und eines großen Wegbereiters europäischer Dichtung und Metaphorik.

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