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Erreichte er den Fluß?

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„Da Opernhäuser existieren und da sie die besten Anlagen, Bühneneinrichtungen und akustischen Vorbedingungen bieten, sollte man sie benutzen. Aus keinem anderen Grund.“ Dieses sagte Hans Werner Henze, und als er von dem Königlichen Opernhaus Covent Garden einen Opernauftrag erhielt, wandte er sich an Edward Bond, den radikalen, jungen englischen Dramatiker und zusammen schufen sie das neue Werk, „Wir erreichen den Fluß“, dessen Uraufführung in London wenige Tage nach Henzes 50. Geburtstag stattfand.

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„Da Opernhäuser existieren und da sie die besten Anlagen, Bühneneinrichtungen und akustischen Vorbedingungen bieten, sollte man sie benutzen. Aus keinem anderen Grund.“ Dieses sagte Hans Werner Henze, und als er von dem Königlichen Opernhaus Covent Garden einen Opernauftrag erhielt, wandte er sich an Edward Bond, den radikalen, jungen englischen Dramatiker und zusammen schufen sie das neue Werk, „Wir erreichen den Fluß“, dessen Uraufführung in London wenige Tage nach Henzes 50. Geburtstag stattfand.

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Er verlangte 59 Sänger für über 120 Rollen, drei Solistenenseimbles und eine Militärkapelle, einen Schlagzeugsdlisten, für dessen drei Solokadenzen die aus resonierenden Holzbrettern bestehende Bühne an drei Wänden mit einem phänomenalen Arsenal exotischer Becken, Gongs, Pauken, Trommeln und Glok-ken ausgeschlagen wurde. Sechs PHattengtocken, fünf hängende BronzefoMen und zwei Kirchenglak-ken mußten sogar extra in Deutschland angefertigt werden, und ein „ArMung“ wurde aus Java angeflogen, um in der Vorstellung der Hörer ein imaginäres Flußbett hervorzuzaubern, während der Kaiser, eine Tranisvestltenrolile, eine Gescibichte von Buddha erzählt. Aber nicht nur exotische, sondern auch historische Instrumente, wie etwa Portativorgel, Viola d'amore, Viola da gamba, Oboe d'amore, Bassetthorn und Blockflöten, ferner Mundliaiimonika, Okka-rina, Akkordeon, elektrische Gitarre •und Banjo gehören, neben den üblichen Streichern, Bläsern unld Zupfern au dem Instrumentarium, und jeder einzelne der 32 Instrumentali-sten muß nicht nur mehrere Instrumente, sondern auch eine Anzahl von Trommeln und Zymbeln, Pauken und Glocken, Rasseln, Boobams, Krotalen und sogar ein Sistrum bedienen unid gelegentlich auch stöhnen und klagen, während eine Müi-tärkapelle bei besonderen Anlässen eingreift und die Szene beherrscht.

Derartige Ansprüche stelte Henze für seine erste engagierte Oper, in der die Ungerechtigkeit und die Unmenschlichkeit eines totalitären Regimes in einer Reihe von Bildern gezeigt und musikalisch illustriert wird. Zu diesem Zweck greift er auf sämtliche Stile zurück, zitiert und paradiert, entlehnt und variiert, stellt triviale Episoden neben zwölftön ige Kontrapunkte und Clusters, baut Bach-Choräle und Hassler-Orgelvorspiele, Koloraturarien und Gassenhauer, Studentenlieder und Kanzonetten, Walzer und Polonaisen in eine Partitur ein, die off erihar keinen anderen Zweck verfolgt als denkbar große Anschaulichkeit eines Dogmas, Durchschlagskraft einer Lehre, Totalausdruck einer Überzeugung.

Der Text behandelt den Gewis-senskonfldkt eines Generals, der zu Beginn der Oper als Sieger eines militärischen Aufstandes erscheint, einen Deserteur kaltblütig zum Tode verurteilt, die Glückwünsche des Kaisens entgegendjramt. Erst die Mitteilung seiner bevorstehenden Erblindung durch den Arzt öffnet ihm die Augen, und erfüllt von Mitleid und Schuldgefühl stellt er sich auf die Seite der Opfer, die er zu retten sucht, kommt in ein Irrenhaus, wind dort durch angeheuerte Gangster des Kaisers geblendet und von den Irrsinnigen umgebracht.

Auf einer Bühne, die sich über den ganzen Orchestergralben ausdehnt

und in drei Spielebenen, jede mit ihrem eigenen Orchester, eingeteilt ist, wenden die Szenen teilweise gleichzeitig, teilweise getrennt dargestellt, und es ergibt sich eine dramatische Polyphoniie, die durch einen weitverzweigten musdkali,?Chen Kontrapunkt ergänzt wird. Die Musik der „Bourgeoisie“ jgt durch Banalität gekennzeichnet; Schlachtfeld und Irrenhaus bringen erhebliche Dissonanzen mit sich; besonders fröhliche Weisen unterstreichen besonders tragische Momente, aber wenn drei Orchester gleichzeitig spielen, wie etwa bei der Erschießung der „alten Frau“, die soeben mit dem bekehrten General im Kanon gesungen hat, dann ist kaum noch etwas zu unterscheiden, und es ist gut, daß Henze in dem abschließenden Chor auf derartige Simwltahklänge verzichtet und die Botschaft auf schlichte und allgemeinverständliche Art an den Mann bringt.

Ungehindert wird der Fluß, Sinnbild der Barriere zwischen Unterdrückung und Freiheit, von den einst Schiwachen überquert werden. „Unser Schritt ist so sicher jetzt, wir können nicht mehr untergehen“ — auf diese optimistische Note ondet eine Oper, die von Gewalttaten ur.d Atrozitäten angefüllt war und offenbar die Welt von heute und die Hoffnung auf ein besseres Morgen darstellen will.

Das Publikum klatschte ausgiebig, und vereinzelte Buh-Rufe aus der Galerie wurden von dem «tllgsmsi-nen Applaus übertönt. Die Leistungen der Sänger von Covent Garden und der London Sinfonietta wurden mit besonderem Beifall bedacht. Regie führte der Komponist; die Bühnengestaltung lag in den Händen seines Bruders, Jürgen Henze. Allerhöchste Anerkennung verdient Daind Atherton, der sämtliche Orchester dirigierte und dem es gelang, die Verwirrung auf ein Minimum zu reduzieren. Weitere Inszenierungen der Oper sind vorläufig für Berlin, Zürich, Köln und Stuttgart vorgesehen.

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