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Etwas bahnt sich an

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Der Mann im dezenten grauen Einreiher war für die Stammgäste auf der Besuchergalerie des Parlaments ein vertrauter Anblick. Niemand kannte ihn, und niemand wußte auch, warum er so oft hierher kam. Aber er mußte an den Debatten großes Interesse haben, denn er verfolgte alles, was sich im Hohen Haus zutrug, mit offensichtlich gespanntester Aufmerksamkeit. Er fixierte die Redner, die Abgeordneten in ihren Bänken und die Regierungsmitglieder mit geradezu stechenden Blicken, und es schien, als studierte er jede ihrer Mienen, jede noch so unbedeutende Geste, jedes Fältchen in ihrem Gesicht und jeden Hauch einer Gefühlsregung, der sich auf die eine oder andere Weise äußerte.

Von Zeit zu Zeit verließ er den Saal und ging zu einem Telefon. So auch heute. Er wählte die Nummer einer Presseagentur. „Hören Sie, Müller“, vertraute er mit bedeutungsschwerer, gedämpfter Stimme dem gespannt lauschenden Zeitungsmann am anderen Ende der Leitung an, „da bahnt sich etwas an! Seit der Steiger im Parlament ist, konnte man bei jeder Wortmeldung des Muck ein aggressives Zucken seines linken Ohrs beobachten. Und stellen Sie sich vor: Heute hat es zum ersten Mal nicht gezuckt!

Ganz im Gegenteil: Man konnte sogar kurz sehen, daß er den Kopf leicht neigte, was ganz nahe an den Eindruck einer zustimmenden Geste herankam. Sollte er auf Anhieb die versteckten Anspielungen in der Rede von Muck — die mir natürlich nicht entgangen sind — verstanden haben, der wiederholt Bemerkungen wie .alles, was recht (!) ist oder ,er hätte auch li(e)ber al(l)e Regierungs- posten in seine Ausführungen einfließen ließ? Aber das alles wäre für mich als gewiegten Beobachter natürlich noch zu wenig gewesen.

Ich habe daher sofort die Gegenprobe gemacht - und tatsächlich, auch Sanowitz war diese Einladung an seinen Koalitionspartner nicht entgangen. Ich konnte das an so untrüglichen Zeichen wie wiederholtem Anfassen des Kugelschreibers und nervösem Kratzen an der linken Augenbraue feststellen. Mit einem Wort: Für mich gibt es keinen Zweifel, hier bahnt sich etwa an!“

„Sehr interessant“, antwortete der Agenturmensch, „melden Sie sich sofort wieder, wenn Sie weitere Beobachtungen gemacht haben!“

„Versteht sich; bis bald!“

„Sie sind ein Teufelskerl…!“

Die letzten Worte hörte der

Mann allerdings nicht mehr, denn er hatte schon eingehängt und eilte in die Kärntner Straße, um seinen nächsten Beobachtungsposten zu beziehen. Er mußte eine Stunde warten, bis der Generalsekretär kam, aber das Warten zahlte sich aus, denn was er dann sah, verschlug ihm den Atem: Der Generalsekretär trug einen blauen (!) Anzug und hatte eine kleine braune Aktenmappe unter den Arm geklemmt. Der Mann rieb sich die Augen. So hatte er Herzogg noch nie gesehen.

Jetzt ging er aufs Gapze. Er fragte den Portier, ob der X im Büro sei. „Na“, erfuhr er, „der macht heit blau“. Und der Y? „Der hat a frei heit… “. „Freiheitliche Gäste“, ergänzte der Mann in Gedanken und war auch schon weg.

Er wollte schon zum Telefon, machte dann aber doch noch einen Abstecher zur Löwelstraße, um sich letzte Sicherheit zu verschaffen. Schließlich ging es wieder einmal um seinen Ruf als politischer Beobachter. In der Löwelstraße schien man aber noch nichts zu ahnen.

Aber dann kam Sanowitz von der Parlamentssitzung, und was jetzt folgte, machte für den Mann im grauen Einreiher alles klar. Sanowitz stieg kurz aus, und der Mann konnte hören, wie er zum Portier sagte: „Rufen Sie bitte meine Frau an und sagen Sie ihr, es wird heute etwas später, aber ich muß hier noch nach dem Rechten sehen.“

Noch am Abend tickte eine Meldung über die Fernschreiber der Zeitungsredaktionen, die mit den Worten begann: „ .Koalition vor dem Ende? Nach Meinung politischer Beobachter gibt es deutliche Anzeichen für ein nahe bevorstehendes Ende der derzeitigen Regierungskoalition … “

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