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Fünfzig Tage Kur

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Zum tausendjährigen Jubiläum ihres Erzbistums erschienen ganze tausend Menschen in Prags Bischofs-' kirche — für jedes abgelaufene Jahr einer. Die Behörden hatten obendrein jede öffentliche Bekanntmachung des Ereignisses untersagt. In Polen waren nicht nur bei den Tausendjahrfeiern vor zwei Jahren die Kirchen, katholische wie protestantische, überfüllt, sie sind es Sonntag für Sonntag. In der DDR füllen nur noch Konzerte, mit den Thomanern etwa, große Kirchen in Berlin, Leipzig und Dresden — die aktive Gemeinde wird überall kleiner. Jahrzehntelange Austrocknung, über die Schule von der Partei systematisch betrieben, trägt ihre Früchte. In Rumänien hingegen, das gleichfalls seit mehr als 25 Jahren kommunistisch ist, werden in jedem Gottesdienst die Kinder zum Taufstein gebracht und selbst Parteileute kirchlich begraben.

Pfingsten 1973 zeigt auch im Westen eine kirchliche Landkarte, die sehr unterschiedlich ist. Aufs Ganze gesehen, erfreut sich die Kirche zwar, im Unterschied zu den kommunistischen Ländern, öffentlicher Billigung oder gar Förderung. Niemand kann hoffen, durch seinen Kirchenaustritt Wohlwollen zu erringen, aber

ebensowenig kann einer erwarten, durch kirchliche Aktivität Anerkennung zu finden. Wer in Osteuropa eine Kirche betritt, hat eine echte Alternative zur ungeliebten Staatsdoktrin gewählt. Je kompromißloser diese Alternative herausgearbeitet wird, desto erfolgreicher ist sie — Polen zeigt es. „Friedenspfarrer“ aller Schattierungen, in der DDR, in der CSSR und in Ungarn, bleiben ohne Gemeinden. Bei uns gewährt der Staat eine so weitreichende Meinungsfreiheit, daß selbst kommunistische Sympathisanten innerhalb der Theologenschaft milder beurteilt werden als Gesinnungsfreunde im öffentlichen Dienst.

Während der Trend zu Kirchenaustritten langsam geringer wird und die Kirchensteuern in den meisten Landeskirchen reduziert werden, bereiten sich die Ausflugsorte auf einen Massenanstrum von Urlaubern vor. Pfingsten 1973 — so spät hatten wir es lange nicht mehr. Das „liebliche Fest“ Goethes ist sogar bei manchen schon in die Sommerferien integriert. Auch bei uns werden viele Kirchenbänke halbleer bleiben, dafür muß man auf den Campingplätzen die letzten Stuhlreserven für die Gottesdienste mobilisieren. Welche Botschaft erwartet die Daheimge-

bliebenen und die — meist sehr zahlreichen — Teilnehmer an Gottesdiensten in den Ferienorten?

Zunächst nochmals eine Konfrontation mit dem ältesten und wichtigsten Fest der Christenheit: mit Ostern. Pfingsten, das lernten wir schon im kirchlichen Unterricht, kommt vom griechischen Wort für „der Fünfzigste“. Sieben Wochen, rund 50 Tage, verordnete sich die Kirche für die Osterfreude. Man sollte sich wieder einmal erinnern dürfen. Denn offenbar war diese Freude auch zu anderen Zeiten, im Kampf mit anderen Ideologien und unter der Last immer neuer Freudlosigkeiten nicht eben selbstverständlich. 50 Tage lang täglich neu: man nehme von der Osterfreude. Diese Verordnung, nochmals, sollte kundigen Seelenärzten wieder geläufig werden — sie müssen freilich selbst von der Wirksamkeit des Medikaments überzeugt sein. Pfingsten, der fünfzigste Tag der Kur, war und ist der Erweis dafür, ob die Medizin der Auferste-hungsfreude angeschlagen hat, ob die Osterbotschaft uns gleichgültig ließ oder ob es auch heute noch, wie am Anfang des Berichtes in der Apostelgeschichte, heißt: als der fünfzigste Tag herangekommen war, waren sie alle beieinander an einem Ort.

Niemals weiß man im voraus, was aus einem Fest wird. Das war auch schon damals so, beim ersten Pfingsten. Nach der Ordnung ihrer Väter, die das dritte, Buch Mose beschreibt,

hatten sich die Jünger, zu denen wohl schon einige weitere Zeugen der Auferstehung gestoßen waren, zum zweiten großen Hauptfest des Jahres versammelt: die Ernte war eingebracht auf den kargen Feldern. Grund genug zur Fröhlichkeit und zur Dankbarkeit. Eine ganz andere Ernte trugen sie an diesem Tag davon: der Heilige Geist schuf sich aus der vielsprachigen, aus allen jüdischen Emigrationsgebieten rings um das Mittelmeer zusammengeströmten Menge, deren harter Kern die Jüngergemeinde Jesu war, etwas völlig Neues. Kirche, herausgerufene Schar, nannten sie sich später, sachlich und sehr nüchtern. Kein Verein würde sich heute mit einem so anspruchslosen Etikett begnügen. Dies aber war ihnen nach Pfingsten aufgegangen: mit der Botschaft von dem auferstandenen und lebendigen Christus waren sie von ihren bisherigen Wertvorstellungen getrennt, den religiösen so gut wie den politischen. Der Schritt aus einer regional beengten Jüngergemeinde, die obendrein durch tausend hemmende Gesetze des Judentums eingeschränkt war, in die Weite der Völkerwelt war vehement getan. Wir werden darauf zu achten haben, daß nicht in unserer Zeit der Kirche, sofern und wo sie sich von politischen Uber-fremdungen freigekämpft hat, neue ideologische und gesellschaftliche Koordinatensysteme angepaßt werden. Nur eine Kirche, die nicht hörig

ist, hört die Pfingstbotschaft — nur wer zuvor richtig gehört hat, kann auch richtig weitersagen.

Zu sagen aber ist, nachdem der Ort von Pfingsten damals und heute geschildert ist, sein Ziel:. Tröstung und Erinnerung. Kein anderer als Jesus hat es, nach den Worten des Evangelisten Johannes in den Abschiedsreden, so interpretiert. Wenn der Tröster, der Heilige Geist, welchen der Vater in Jesu Namen sendet, zu uns kommt, dann wird er uns alles lehren und an alles erinnern, was er, Jesus, gesagt hat. Auch das ist wieder sehr sachlich und fern aller Überschwengliohkeit, die man unnötigerweise mit Pfingsten in Zusammenhang bringt. Beides haben wir in der Tat bitter nötig, wir müden Christen. Trost, weil das versprochene Reich, in dem Friede und Freude sind, immer nur in seinen ersten Konturen sichtbar wird und oft genug ganz verdunkelt ist — Erinnerung, damit eng verbunden, an die Worte des Herrn, mit denen er seiner Gemeinde kein gemütliches, von Gleichgültigkeit oder Nachstellung verschontes Domizil inmitten der Völker, ihrer Religionsstifter und ihrer Götterdämmerungen ankündigte. Diese tröstende Erinnerung neu zu hören und mit ihr es als Kirche wieder in der Zerreißprobe gegensätzlichster Ansprüche auszuhalten — dazu feiern wir auch das Pfingstfest 1973.

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