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Garderobe Nummer Eins

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I edes Kind stellt sich manchmal I vor, es sei ein Cowboy. Oder In-cuaner, Detektiv, Jäger, Kosmonaut. Jeder Stock kann zum Gewehr werden, Säbel, Teleskop, Zauberstab. Die Phantasie ist stark, die Wirklichkeit kein Hindernis. Wenn das Kind sich mit den Gegebenheiten abzufinden beginnt, wird es zum Erwachsenen. Wenn nicht, wird es manchmal Schauspieler.

„So geht's nicht weiter. Wenn wir selber nichts unternehmen, bleibt alles beim alten", sagte die schöne Anfängerin und streckte ihre langen, nackten Beine so aus, daß jeder, der zum Büffet wollte, über sie hinwegklettern, aber mindestens sie bewundern mußte. „Ich denke nicht daran, mich im Korridor umzuziehen, sodaß jeder besoffene Bühnenarbeiter meinen Hintern bewundern kann!"

Kein Theater hat genügend Künstlergarderoben. Je nach Rang und Alter ist man zu sechst, zu viert, zu zweit untergebracht. Die ganz Jungen hatten nicht einmal einen ständigen Winkel.

„Ich sag ihr's."

„Wem? Was?" fragte die dicke Souffleuse. Die anderen taten, als hörten sie gar nicht zu.

„Die sitzt ja nur nutzlos herum in ihrer Suite. In der berühmten Nummer Eins. Und wißt ihr, wie oft sie aufgetreten ist, in der vorigen Saison? Ich hab's gezählt! Nur fünfzehnmal. Soll sie ihre Suite hergeben für uns junge Künstler!"

„Und wer bringt ihr das bei? Kein Intendant legt sich mit den alten Schauspielern an."

„Ich sag ihr's selbst. Sie ist ja da. Wer kommt mit?"

Sonja, die junge Schauspielerin, sah sich trotzig um.

„Du kannst die alte Dame doch nicht aus dem Theater jagen", brummte jemand.

„Verjagen? Ich will nur einen Platz zum Umziehen haben, wenn ich arbeite. Das Publikum will mich sehen. Wessen Fotos sind in den Illustrierten, ihre oder meine?" Sie war schon in mehreren Filmen zu sehen gewesen.

„Eben", meinte der Komiker. „Wenn du schon der ganzen Welt freizügig deine hübsche Haut zeigst, warum willst du sie uns dann vorenthalten?"

„Dir zeige ich immer alles. Aber nur, wenn du brav bist."

Die Garderobe Nummer Eins lag gleich neben der Bühne. Sonja klopfte. Hinter ihr standen wie zufällig mehrere Kollegen. Sie mußte noch einmal klopfen. Lauter.

„Darf ich?" fragte sie unsicher.

„Wer ist das?" Die Stimme der alten Dame kannte das ganze Land.

„Sonja."

Es entstand eine Pause. Dann kam es sehr akzentuiert, so als sei es sehr höflich, aber vielleicht nur ironisch.

„Ja ... Ich weiß aber nicht, wer das ist."

„Ich ... gnädige Frau, ich habe doch in der vorigen Saison ihren Pagen gespielt. Sie haben mich doch so nett gelobt."

„Ach, du bist das. Ja dann komm doch herein, wenn du schon da bist, mein Kind."

Es war sehr dunkel im großen Ankleideraum. Einige kleine Sessel, eine Liege mit vielen bunten Kissen. Eine alte spanische Wand. Alle Wände voller Bilder, Plakate. Die alte Dame lag bequem, in eine herrliche, englische Decke gewickelt, und wartete. „Wir wollten Sie etwas bitten." „Ja?"

„Gnädige Frau! Die Bedingungen ..." Sonja wußte, daß man draußen lauschte. Wenn sie jetzt beim Intendanten gewesen wäre, hätte sie etwas vorgeweint. Sie konnte immer weinen. Aber diese Frau hier kannte alle Tricks. Das hatte keinen Sinn. „Es ist unwürdig, gnädige Frau. Wir jungen Schauspielerinnen müssen uns im Korridor umziehen. Jeden Abend! Vor allen diesen ekelhaften Männeraugen."

as ist nicht gut", sagte die alte Dame. „Nicht nur wegen euch, sondern wegen unserem Beruf."

„Ich wußte doch, gnädige Frau, Sie werden uns verstehen."

Nun wurde es sehr still. Was will sie noch? — fragte sich die Ältere. Versteht sie denn gar nichts, oder tut sie nur so? — dachte die Junge. Eine mußte zuerst etwas sagen.

„Sie könnten ein so wundervolles Beispiel geben", bettelte Sonja. „Wenn Sie uns diesen Raum geben würden, gnädige Frau, immer wenn Sie nicht spielen, dann würden die übrigen Älteren..."

„Wieso Älteren?" unterbrach sie die Alte schnell.

„Ich dachte... Ich weiß ja nicht, was Sie diese Saison spielen werden, gnädige Frau..."

Man durfte nichts bemerken.

„Oh, viel, mein Kind. Keine Sorge. Gerade diese Saison habe ich große Aufgaben. Mein Publikum will mich sehen. Und mein Jubiläum..."

Sie spielte gut. Auch allein für diese armselige, kleine hübsche Fratze spielte sie gut. Sie hatte für das nächste Spieljahr keine einzige neue Rolle bekommen. Aber wie man dramatische Pausen einlegt, das wußte sie sehr gut. Wieder mußte Sonja unsicher fragen:

„Also?"

„Ich bringe das in Ordnung, mein Kind. Ich sage dem technischen Direktor, er soll den Inspizienten eine Weisung geben. Nackt dürft ihr nicht im Korridor herumlaufen, das geht nicht. Er stellt euch einen Verschlag in die Bühnenecke. Und einen Schemel mit einem Waschbecken. Wenn sie schon so viele Mädchen genommen haben, die sich einbilden, daß sie Schauspielerinnen werden können, sollen sie auch dafür sorgen, daß sie sich umziehen können."

Sonja trat den Rückzug an: „Ich danke für Ihr Verständnis, gnädige Frau." Draußen sagte sie trotzig: „Alles hab ich ihr ins Gesicht gesagt. Hoffentlich habt ihr's auch gehört." Dann ging sie. Sie konnte schon so gehen, daß man ihr nachschauen mußte.

Die alte Schauspielerin lag noch lange regungslos. Sie hatte nichts zu tun. Auch keine Lust, zu lesen. Ihre Wohnung sah nicht anders aus als dieses Zimmer: Sessel, Kissen, Plakate, Plaids. Plötzlich sprang sie auf und begann zu pak-ken. Wie einen zahnlosen, alten Hund dürfen sie mich nicht verjagen. Sie riß die Bilder von den Wänden, versuchte sie in ihre große Tasche zu verstauen. Ich werde jemanden schicken, das abzuholen. Aber wen? Sie hatte niemanden. Sie mußte den Pelz anziehen, obwohl es noch gar nicht so kalt war. Der Nachtportier wunderte sich:

„Soll ich ein Taxi bestellen, gnädige Frau. Es regnet..."

Sie wollte nicht warten.

„Nein, danke. Ich brauche frische Luft."

Viele Jahre war sie immer denselben Weg gegangen. Eine Brille wollte sie nicht tragen. Kontaktlinsen vertrug sie nicht. Zu jeder Jahreszeit nahm sie den Weg durch den Park. Jetzt kam die Straße. Das rote Licht konnte sie erkennen. Wenn in jener Richtung Rot ist, muß es für mich grün sein. Warum sehe ich das Grün nicht? Vielleicht ist es ausgefallen.

Die Straßenbahn hörte sie erst, als sie über die Planken gestolpert war. Die Fotos fielen auf die Pflastersteine. Glas klirrte.

Sie lag da und hörte den immer stärkeren metallenen Ton. War das der Zug der Anna Karenina? Ich habe die Anna Karenina nie gespielt. Aber jetzt, für das Jubiläum! Was für eine freundliche Idee. Die Anna kann schon etwas älter sein. Reifere Frauen können sich so verlieben.

Sie wußte nicht, daß sie die Hüfte gebrochen hatte.

Der Schmerz setzte noch nicht ein. Augenblicke können ewig dauern. Sie wußte nicht, daß sie eine echte Straßenbahn hörte, keine Bühnengeräusche. Es gibt keinen Unterschied zwischen Bühne und Leben. Oder doch? Die Bühne ist das Leben. Das Leben wird nicht auf der Bühne" gelebt.

Das Gleis war naß, es war zu spät zu bremsen. Von diesem Augenblick an stand der Umkleideraum Nummer Eins für jüngere Kräfte zur Verfügung.

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