6855571-1977_14_08.jpg
Digital In Arbeit

Johannes Nepomuk und die Stummen

Werbung
Werbung
Werbung

30 Jahre nach der „Befreiung“ der Tschechoslowakei vom „Joch des Kapitalismus“, ein Jahr vor der Wiederkehr jenes schicksalträchtigen Februars, weisen blutrote Plakate auf ein Jubüäum hin, das wohl während des ganzen Jahres 1978 kein Ende nehmen wird. Während die Parteizeitungen täglich neue Ergebenheitsadressen derer veröffentlichen, die unbefragt und wohl auch aus Angst vor Folgen für ihre Kinder, mit einer Unterschrift gegen die Unterzeichner der Charta 77 Stellung beziehen, wissen die Blätter im Westen zu berichten, daß die Bürger der CSSR von nackter Existenzangst beherrscht werden. Und tatsächlich: An der Parteispitze herrscht Angst, daß sie noch immer nicht ihr Soll an Hörigkeit gegenüber Moskau glaubwürdig erfüllt hat; das Volk hat Angst, daß die Menschen im Westen im Sog törichter Zwecklügen von Entspannung aufhören könnte, sein Fürsprecher und Fürbitter zu sein.

An einem Abend, Mitte Februar 1977, in einem Hotel von Prag: Das angegliederte Café ist überfüllt, Zeitungen liegen ungelesen auf einem Tisch und ältere Herren reden über vergangene Zeiten. Nur in einer Ecke des kreisrunden Jugendstilraumes herrscht Aufregung: Eine Gruppe von zwölf Taubstummen gestikuliert Obwohl es dabei fast lautlos zugeht, ist der Vorgang doch vielsagender, als das sanfte Salongeplätscher im Café. Einer der Taubstummen hält die Zeitung hoch, erläutert und erntet dabei Zustimmung und Kritik. Eine faszinierende Szene, die so ganz und gar nicht zur kommunistischen Wirklichkeit paßt.

Alle anderen denken daran, daß der zweite Nationalheilige (der erste ist der fast mythische König Wenzel, dessen Denkmal zuletzt im August 1968 im Mittelpunkt des frontalen Zusammenstoßes zwischen Volk und Regime stand) jener Nepomuk ist, dem sein König die Zunge herausschneiden ließ. Im ganzen Land grüßt der liebenswerte Kirchenmann, den Gekreuzigten im Arm, an Wegen und Brücken die Vorübergehenden. Nepomuk war bekanntlich Beichtvater der Königin. Er ließ sich lieber martern, als das, was sie ihm anvertraut hatte, auf Befehl des Herrschers auszuplaudern.

Beide Büder zusammen stehen in einem besonderen Zusammenhang mit der CSSR: Nur Taubstumme können es sich erlauben, öffentliche Diskussionen miteinander zu führen. Wer aber noch eine Zunge hat, möge sich hüten, zu sagen, was er denkt. Hunderte haben in diesen Wochen - wie eingangs schon angeführt - aus Angst mit ihrer Unterschrift gegen ein Dokument protestiert, dessen Inhalt sie nur aus den Radiosendungen des Westens kannten.

Nur wenige brachten den Mut auf, die Unterschriftsleistung abzulehnen. Ihre Argumente dafür: „Wir haben schon am Anfang der fünfziger Jahre unterschrieben, damals im Fall Slänsky und Genossen. Sie wurden ermordet und 15 Jahre später rehabüi- tiert. Das hat uns gereicht.“ Niemand kann diese Bürger tadeln. Selbst die Portiers im Hotel Intercontinental, in dem vor Wochen jene spektakuläre Pressekonferenz mit gestelltem Frage- und Antwortspiel über die Bühne ging, zeigen dem Gast kommentarlos jenen Saal, in dem das geschah.

Einzig die in der Hohen Tatra auf Kur weilenden Funktionäre reden schamlos auch öffentlich die gestanzten Phrasen ihres Parteichinesisch und schütteln der Genossin derb die Hand. Als Westler küßt man daraufhin ostentativ die Hand der Dame und rettet damit die guten Sitten der Proletarisierung zum Trotz.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung