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Juristenfheorie und Obstlerpraxis

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Vor kurzem traf ich meinen Freund, genannt der Jurist, im Keller einer Weinstube beim dritten Vierterl. Er hatte schon ein bißchen einen philosophisch-melancholischen Blick und war froh, sich endlich seinen Kummer von der Seele reden zu können. „Was ist mit Dir?” fragte ich ihn mitfühlend, „Du schaust gar nicht gut aus.”

„Ja, es ist schrecklich”, bestätigte er mir seinen Zustand, und deutete auf einen Artikel in einer aufgeschlagenen Zeitung.

„Das Abendland wird noch ins totale Chaos stürzen. Man schreckt vor nichts zurück. Die letzten Bastionen der Ordnung brechen zusammen. Lies, da, man will die Vorrangtafeln abmontieren, wo soll das alles noch hinführen? Und das in einer Zeit, wo die Polizei immer weniger in Erscheinung tritt, nur jedes dritte oder vierte Radargerät geladen ist und überhaupt Zucht und Ordnung Fremdwörter zu sein scheinen.”

Ich mußte all mein psychologisches Einfühlungsvermögen aufbieten, um meinen Juristenfreund vor einem regelrechten Weinkrampf zu retten.

Er hatte sich schon mit einem vierten Viertel getröstet, da setzte er fort: „Und überhaupt, man ist viel zu milde, fünf Stundenkilometer zu viel werden toleriert, damit fängt es schon an. Die Polizei selbst nimmt damit die Vorschriften gar nicht mehr ernst. Und so geht das weiter, brauchst ja nur die Zeitung lesen. Der eine war unzurechnungsfähig, weil besoffen, der andere war unzurechnungsfähig, weil in einem psychischen Notstand und der dritte war unzurechnungsfähig, weil sozial vernachlässigt.

Na, wo kommen wir denn da hin!”, meinte mein Freund im Brust-tonder Entrüstung. „Wirlebendoch in einem Rechtsstaat, und wo es

Recht gibt, da muß es wohl auch Unrecht geben, sonst ist das ganze ja nicht mehr als ein Kasperlthea-ter, oder?” Und damit ging er jetzt zu Härterem über, zuerst einmal zu hausgebranntem Obstler, der in diesem Keller berühmt ist, dann zu Slivovitz und Barack.

„Früher war wenigstens der Ostblock noch eine Bastion für Recht und Ordnung, oder?”, setzte er fort, ohne eine Antwort auf sein fragendes oder abzuwarten „aber damit ist es ja jetzt auch vorbei, leider.”

„Aber...”, versuchte ich einzuwenden, doch mein Freund war schneller.

„Wirst sehen, das totale Chaos wird ausbrechen, man sieht es ja bei den Radfahrern, die fahren wie im wilden Westen, als gäbe es für sie keine Gesetze. Den Autoschlan-gen bei Kreuzungen fahren sie vor wie nichts. Gegen Einbahnen läßt man sie auch schon fahren und schreibt noch darunter „Ausgenommen Radfahrer”.

Na und auf Radwegen, da läuten sie die Fußgeher an, daß sie nur so wegspringen. Bei den Radfahrern fängt es an, und bei den Autofahrern geht es weiter, - hin und wieder, haben wir schon das reinste Chaos.” Und damit kippte er seinen dritten Obstler. „Was wir brauchen, das sind Gesetze, viel mehr Gesetze, und Polizisten, viel mehr Polizisten und vor allem neue Verkehrszeichen, viele neue Verkehrszeichen, Prost.”

Und damit war das Rezept herau-ßen, und ich hatte größte Mühe ihn davon abzubringen, mit dem eigenen Wagen nach Hause zu fahren. Erst nachdem ich ihm eine halbe Stunde gut zugeredet habe, lenkte er ein und ließ sich von mir heimfahren.

Theorie und Praxis sind halt zwei Paar Schuhe und nach drei Obstlern hat man oft das falsche Paar an.

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