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Kleiner türkischer Freund

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Der kleine Türke besucht eine öffentliche Volksschule in einem Wiener Randbezirk, er sitzt in der Bank neben einem kleinen Wiener. Die beiden wohnen im gleichen Haus, haben den gleichen Heimweg von der Schule, nachmittags, wenn die Hausaufgaben geschrieben sind, treffen sie sich auf dem Spielplatz oder sie besuchen einander in ihren Wohnungen.

Manchmal ißt der kleine Türke bei dem kleinen Wiener zu Mittag, manchmal ist der kleine Wiener bei der Mutter des Schulkollegen zu Gast, dann gibt es eine türkische Speise.

Das schmeckt sehr gut, sagt der kleine Wiener, wann darf ich wieder bei Euch essen?

Wann darf ich wieder bei Dir schlafen, sagt der kleine Türke.

Die beiden sind Freunde. Wenn die anderen Kinder den kleinen Türken ärgern, dann wird der kleine Wiener böse.

Er kann nicht richtig schreiben, sagt der kleine Peter.

Und du kannst nicht richtig rechnen, knurrt der Freund des kleinen Türken.

Und beim Sprechen macht er auch immer Fehler, sagt die kleine Birgit patzig.

Dafür kann er türkisch und du nicht, schreit der Freund des kleinen Türken.

Der kleine Wiener, von dem hier die Rede ist, ist mein Enkel, und ich bin schon deshalb, weil er seinen Freund so mutig verteidigt, stolz auf ihn.

Manchmal spielen die beiden in meinem Garten. Als ich sie unlängst einer Bekannten vorstellte, fügte ich, nachdem ich den Namen des kleinen Türken genannt hatte, hinzu: Er ist aus der Türkei.

Hatte ich in meinem Unverstand gemeint, der Hinweis auf seine exotische Herkunft würde den Buben mit Stolz erfüllen? Welcher Irrtum war mir da unterlaufen! Das Gesicht des Kindes, das vorher fröhlich gewesen war, verfinsterte sich, mit einem Mal sah er bekümmert aus, seine dunklen Augen hatten einen feuchten Glanz bekommen. Nein, es war kein Vorzug, in der Türkei geboren worden zu sein, es bereitete im Gegenteil permanenten Kummer, man wollte nicht daran erinnert werden.

Kommst du Mittwoch wieder? fragte ich abends beim Abschied.

Mittwoch bin ich nicht mehr da, sagte der Kleine, wir fahren zu meiner Oma. In die Türkei, fügte er leise hinzu.

Du hast eine Oma in der Türkei, sagte ich, das ist ja wunderbar. Viele Kinder würden dich darum beneiden. Die Türkei ist ein sehr schönes Land.

Jetzt breitete sich auf dem Gesicht des Kindes ein glückliches Lächeln aus. Es gab also etwas, das ihm gehörte, das andere nicht hatten, etwas, was man nicht kaufen konnte, was man eben deshalb besaß, weil man anderswo geboren worden war. Etwas Schönes war diese Großmutter, zu der man reisen durfte, andere konnten das nicht.

Schreibst du mir eine Ansichtskarte? fragte ich.

Ja, sicher, sagte der Kleine, jetzt strahlend und viel selbstbewußter als vorher. Plötzlich war es kein Unglück mehr, ein kleiner Türke zu sein, es war beinahe schon ein Glück.

Wie einfach wäre es, einander zu verstehen und miteinander auszukommen, dachte ich.

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