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Medienhippokratie

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Man sollte die ärztlichen Zei-tungsheüer nicht mit den Wunderund Geistheilern in den gleichen Verbandstoffeimer werfen und überhaupt den guten Willen aller Gesundmacher nicht bezweifeln. Denn es hat erstens die Sprechstunde bei Dr. Herz in der „Biederen Bunten” schon weitaus mehr Menschen getröstet als ein ganzes Ambulatorium mit zwanzig Kassenärzten, und es wird auch die rechte Gestaltung der reichlichen Freizeit von Ärzten durch die Nebenbeschäftigung als Medien-Konsulent in vernünftige Bahnen gelenkt.

Es ist ja kaum zu glauben, wie geduldig und weitschweifig die überbeschäftigten Ärzte werden, wenn sie den Patienten nicht mehr höchstpersönlich vor sich haben, sondern ihm nur mehr fiktiv als unbekannten Leser vor sich sehen.

Dieses gewissermaßen entkrampfte Verhältnis wird noch dadurch verbessert, daß ' Wege und Wartezeiten, Arbeitsentfall und Krankenschein erspart werden. Die Vorteile sind allerseits.

Der einzige Nachteil ist, daß Frage und Antwort des persönlichen Krankheitsbildes nicht immer zusammenpassen. Bei hartnäckigen Gallenbeschwerden in der Sprechstunde des* Dr. Herz über die Reizung der Atemwege zu lesen, verschafft nur wenig Linderung. In solchen Fällen ist die in den Demokratien des freien Westens gebotene Medienvielfalt ein Ausweg. Lief man früher von Arzt zu Arzt bis man endlich einen fand, der die komplizierte eigene Krankheit zu erkennen und zu heilen verstand, so erwirbt man jetzt am Kiosk Blatt um Blatt, um in den Spalten der ärztlichen Ratgeber wenigstens die richtige Diagnose zu finden.

Ohne eine gewisse Anpassungsfähigkeit wird man freilich nicht auskommen. Es geht nicht sosehr darum, hartnäckig auf Hustenanfällen zu beharren, sondern um die innere Elastizität, sich aus dem ärztlichen Rat die Symptome herauszufiltern, die eben diesen Rat zu einem treffenden machen. Bei entsprechender Übung und innerer Bereitschaft kann der Husten durchaus zu einem nervösen Zucken im linken Knie werden.

Die ärztlichen Ratgeber tragen sehr wesentlich dazu bei, daß sich die Krankheiten epidemisch vereinheitlichen. Es gibt dann gewissermaßen die Krankheit der Woche.

Und es ist auch der Spruch „Sag mir, welches Blatt du liest, und ich sage dir, welche Krankheit du hast!” schon sehr zu Ehren gekommen. Ähnlich wie bei den Horoskopen scheint es eine Art Tendenz-Abstimmung der Blätter zu geben. Frühjahrsmüdigkeit tritt erstaunlicherweise immer im Frühjahr auf.

Da aber der Sitz der weitaus meisten Krankheiten der Gegenwart die Seele ist, liegt die wahre Bedeutung des ärztlichen Ratgebers in der angewandten Psychologie. Die Seele ist ein weites Feld.

Es beginnt damit, daß die Depressionen (spüren Sie sie bereits?) natürlich mit der Bewegungsarmut, mit der schlechten Verdauung, mit dem vielen Herumsitzen zusammenhängen. Bewegen Sie sich also viel in frischer Luft! Depressionen entstehen aber auch durch die Eintönigkeit

Ihrer Umwelt, immer die gleiche Umgebung, die gleichen Gesichter.

Also setzen Sie sich ins Auto, wo freilich wieder die Gefahr der Depression durch Bewegungsarmut lauert. Auf diese Weise stabilisieren Sie Ihre Depression und bedürfen zu deren Behandlung immer weitererpsychologisch-ärzt-licher Ratschläge. Sie vertiefen sich in Ihre Depression, Sie entdecken interessante Details, die Krankheit wird unentbehrlich wie das Blatt mit dem ärztlichen Ratgeber.

Der Rat des Dr. Herz ist der Fortsetzungsroman Ihres inneren Lebens. Schon fiebern Sie der nächsten Woche entgegen, die Ihnen wieder neue Krankheitsbilder mit ungeahnten Depressionen bringt.

Sollten Sie — Gott bewahre! — aus irgendeinem Grunde in dieser Zeit einen wirklichen Arzt aufsuchen wollen oder müssen, so erzählen Sie ihm ja nichts von Ihrem guten Ratgeber aus der „Biederen Bunten”. Das Wort „Kollege”, welches aus ärztlichem Munde stets einen verächtlichen Unterton hat, wird sonst noch bitterer. Selbst dann, wenn der Arzt, den Sie konsultieren, dem Dr. Herz von der Zeitungsspalte verdammt ähnlich sieht.

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