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Prometheische Phantasien

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Einer der merkwürdigsten Musiker, die das große Rußland hervorgebracht hat, der vieles dem Westen verdankt, aber nur dort sich voll entfalten konnte, war Alexander Nikolajewitsch Skrjabin, 1872 bis 1915. Er wurde in Moskau geboren und ausgebildet, ist konzertierend viel in der Welt herumgekommen — und ist in Moskau gestorben. Daß sein 100. Geburtstag nicht ganz unbemerkt vorüberging, danken wir der Wiener Konzerthausgesellschaft, die den gegenwärtig authentischesten Interpreten des Klavierwerkes von Skrjabin, den gleichfalls in Moskau ausgebildeten Igor Schukow, in den Mozartsaal lud.

Skrjabin, ein echtes „Originalgenie“, war nicht nur Musiker, sondern auch Philosoph mit vielseitigen Interessen, dessen Weltbild durch Untergangsvisionen und Nirwana-Träume bestimmt ist. Er stand der Literatengruppe um Balmont und Mereschkowsky nahe und kam (in Brüssel) in Kontakt mit der Theosophie Helene Blawatskys. Auch von dem idealistischen Sozialismus Ple-chanows war er beeinflußt.

Den stärksten Einfluß auf den Musiker Skrjabin hatten Chopin, Liszt, Wagner und Debussy. Deren Neuerungen und Errungenschaften schienen ihm am meisten geeignet, seine Gedanken, seine Innenwelt nach außen zu projizieren und anderen zu vermitteln. Die Formen der klassischen und romantischen Musik genügten ihm schon frühzeitig nicht mehr. Seine wichtigsten Orchesterwerke nennt er „Poeme“: „Le Poeme d'extase“, „Le Poeme divin“, „Promethee ou le Poeme du feu.“ Die Klavierwerke führen die traditionellen Titel „Sonate“, „Preludes“ oder „Nocturnes“, sind aber in der gleichen, hochromantisch-expressiven und unkonventionellen Sprache abgefaßt und verkünden seine Visionen.

Wir hörten zwei Zyklen von insgesamt 15 „Preludes“, 3 Etudes, eine Phantasie und drei von den neun Sonaten, darunter auch die letzte op. 68 aus dem Jahr 1913: einsätzig, ohne Vorzeichen, mit dem Prometheus-Thema. (Die frühesten an diesem Abend vorgetragenen Kompositionen stammen aus dem Jahr 1895.)

Innerhalb dieser Zeit hat sich der Stil, der Ausdruck Skrjabins nicht verändert; emotionell und „strukturell“ sind diese Kompositionen sehr ähnlich — und wiederholen sich doch nicht, wirken nie langweilig, nie wie Serienprodukte. — Den hohen Kunstverstand Skrjabins bezeugt die relative Kürze der einzelnen Klavierwerke: die 3. dreiteilige Sonate dauert 17 Minuten, die 9. einsätzige — neun Minuten, und 10 Preludes aus op. 11 rollen innerhalb einer Viertelstunde ab.

Die flgurative Ausstattung getragener Themen erinnert an Chopin, die ständigen Alterierungen und der stets das harmonische Bild beherrschende Chromatismus entstammen der „Tristan“-Sphäre, die zarte Klangpalette ist der von Debussys, die pathetische Geste der von Liszt verwandt. Aber von ihnen unterscheidet sich Skrjabins Musik durch ihr Bestreben, mystische Erlebnisse und Visionen zu materialisieren (während es bei Debussy fast immer Eindrücke der Außenwelt waren).

So mündete Skrjabins Leben und Denken konsequent in einem utopischen Werk, das unvollendet blieb. Das ihn während der letzten Lebensjahre beschäftigende Mysterium sollte Musik, Dichtung, Mimik, Tanz, Farbenspiele und Düfte zu einem Gesamtkunstwerk verbinden, für dessen Rahmen er sich einen halbkugelförmigen Tempel wünschte. Nach der erst- und einmaligen Aufführung sollte nicht nur der Tempel, sondern auch die Partitur verbrannt werden: einzigartiges Exempel einer — freiwilligen und geplanten — Ur-Derniere...

Man kann sich gut vorstellen, daß Igor Schukow ihm bei der Ralisie-rung dieses Projektes geholfen hätte. Der Sechsunddreißig jährige gibt seit dem Beginn der sechziger Jahre keinen Klavierabend ohne Skrjabin, am liebsten widmet er seine Konzerte ganz dem verehrten Meister. Der schlanke Mann mit dem scharf geschnittenen Gesicht, das keine Augen zu haben scheint, mit den zugleich hektischen und herrischen Bewegungen eines hochgradig Nervösen ist heute wohl der beste Anwalt Skrjabins. Und er spielt, damit wir's nicht vergessen, wunderschön und virtuos Klavier.

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