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Wo die Neuerer ansetzen
Seit spätestens 1950 wissen wir — auf Grund der Begegnung mit einer Unmenge von Kompositionen unserer Jüngeren und Jüngsten —, daß die großen Entdeckungen von musikalischem Neuland in den beiden ersten Dezennien dieses Jahrhunderts gemacht wurden. Das ORF-Konzert im Großen Musikvereinssaal unter Friedrich Cerha bestätigte es — wieder einmal: Schlüsselwerke der Nach-Tristanschen Hochromantik sind Alexander Skrjabins drei Programmsymphonien „Le poeme divin“, „Le poeme de l'extase“ und „Le poeme du feu“, auch „Prometheus“ genannt. Das letztere, bei uns so gut wie unbekannt, bezieht auch Chor und Lichtorgel bzw. Farbenklavier ein. Auch ein konzertierendes Soloklavier (hervorragend, wie immer, Kote Wittlich) ist sowohl Widerpart wie Partner des Orchesters. In 20 Minuten vermittelt Skrjabin mittels eines Riesenorchesters und gewaltiger dynamischer Steigerungen das Gefühl des Rausches und der Entzückung, verbunden mit dem der heroischen Kraft des Einzelmenschen: ein echter Prometheus. Der Chor ist, vokalisierend, ähnlich wie in Debussys „Sirenes“ behandelt. Diese Trilogie ist in den Jahren 1904 bis 1911 entstanden.
In jener Zeit übersiedelte der in Paris geborene Italiener Edgar Varese nach Berlin, wo er Schüler Bu-sonis wurde. Seit 1915 lebte er in New York, wo er 1965 starb: eine der bedeutendsten Figuren, einer der kühnsten Neuerer der Musik unserer Zeit. Hier schrieb er bereits 1925 das Orchesterwerk „Amerique“, das mehr der Entdeckung einer neuen Gefühlswelt als der eines neuen Kontinente seinen Namen
verdankt. Wir haben während der letzten Jahre glücklicherweise mehrere Werke Vareses in Wiener Konzertsälen hören können und sind damit gegen den Bluff des Allerneuesten gefeit. Denn hier, in den mächtigen Klangballungen, schmetternden Bläserfanfaren und heulenden Sirenen ist fast alles vorgebildet, was Jahrzehnte später „Weltmode“ wurde. Obwohl das Ohr etwa 25 Minuten lang von einem oft brutalen Lärm angegriffen wird, zeigte sich das meist aus jüngeren Hörern bestehende Publikum sehr beifallsfreudig.
Friedrich Cerha, den wir nicht nur als Komponisten eigener Werke, sondern, fast mehr noch, als den interessanter Programme schätzen, dirigierte sein bereits um 1960 konzipiertes, 1973 in Graz uraufgeführtes zweisätziges Werk mit dem Titel „Intersecazioni“ für ein sehr apart zusammengesetztes Instrumentalensemble und vier Vokalsolisten. Das Soloinstrument, hi“r eine Geige (vorzüglich: Ernst Kovacic) spielt eine ähnliche Rolle wie das Klavier bei Skrjabin. — Auf die spezielle Eigentümlichkeit von Cerhas Musik braucht hier nicht im einzelnen eingegangen zu werden: Punktuelles, „Aggregate“ und Klangflächen wechseln mit ausgedehnten Soli. Auch hier gibt es gewaltige Lärmentfaltung und bedeutende Anforderungen an das Orchester sowie die „Solisten“, wobei ein merkwürdiger Gegensatz zwischen der disziplinierten Art der Orchesterleitung und dem exzessiven Ausdruck der Musik sehr augenfällig war. (Das besprochene Konzert ist am Montag, dem 23. Februar, um 20 Uhr in ö 1 zu hören.)
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