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Steve Reich und die US-Experimentalmusik

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Mit 40 Jahren gilt Steve Reich als der wichtigste Vertreter amerikanischer Experimentalmusik, wird in Amerika freilich vor allem in Museen und Kunstgalerien aufgefixhrt. In Europa dauerte es eine ganze Weile, bis sein Name an die Öffentlichkeit drang, und die erste europäische Aufführung, die Übertragung eines Tonbandstückes, fand 1969 in der Berner Kunsthalle zwei Jahre vor seinem ersten Auftreten in London statt.

Dieses erste Stück, „It’s Gonna Rain”, entstand 1965 am San Francisco Tape Music Centre und war das Ergebnis eines Experimentes: Reich ließ zwei identische Tonbandschleifen auf zwei identischen Magnetophonen in gleichem Tempo ablaufen und konnte feststellen, daß mit der Zeit Unregelmäßigkeiten eintraten, die zu progressiven Phasenverschiebungenführten. Dieser Prozeß, der Kanonkunst des europäischen musikalischen Mittelalters nicht unähnlich, liegt seinen ersten Tonbandstük- ken zugrunde. Bald ging er dazu über, diese mechanischen Prozesse auf Instrumente zu übertragen und so entstanden „Piano Phase” für zwei Klaviere (1967), „Violin Phase” für vier Geigen (1967) und „Phase Patterns” für vier elektronische Orgeln (1970). Sobald der Prozeß niedergelegt und ein passendes Motiv gefunden war, lief die Sache von selber. Auf lange Strecken hörte man immer wieder dasselbe Motiv und dadurch, daß die Phasenverschiebungensehr allmählich geschahen und die Abweichungen sehr minimal waren - daher der Vergleich mit den amerikanischenMinimalisten-, konnte man mühelos den Prozeß verfolgen, wenn man nicht durch die hypnotischen Repetitionen eingeschläfert wurde. Die ganze Sache wirkte damals eher simplistisch und stand am entgegengesetzten Ende der europäischen Experimentalisten.

1970 fuhr Reich nach Ghana und begab sich in die Lehre des Ewe-Meister- trommlers Gideon Alorworya, von dem er viel über die Struktur afrikanischer Trommelei und alles über afrikanische Avfführungspraktiken lernte, vor allem das dirigenten- und notenlose Spielen, wodurch die ungeteilte Aufmerksamkeit der Mitwirkenden auf Zuhören und Zusammenspiel konzentriert wurde und über die Einsatztechnik durch hörbares Zeichen eines der Mitspieler, die auch bei indonesischen Gamelanorchestem üblich ist und von Reich übernommen wurde. Bei seiner Rückkehr nach Amerika entstand „Drumming”, ein 90 Minuten langes Perpetuum mobile für Trommeln, Marimbas, Glockenspiel und Stimmen, das 1972 in der Londoner Hayward Gallery aufgeführt wurde und die Zuhörer unwiderstehlich-in seinen Bann schlug. Atemlos verfolgte man das komplizierte Klapperwerk, und die Faszination war um so größer, als es schon damals nicht nur um Puls und Phase, sondern auch um Textur und Farbe ging - daher auch der plötzliche Verzicht auf elektronische Instrumente.

Das neueste Werk, „Musicfor 18 Musicians”, dessen englische Premiere kürzlich im Londoner Round House stattfand, geht noch einen Schritt weiter, indem nicht nur Textur und Farbe, Puls und Phase, sondern auch eine harmonische Struktur einbezogen ist. Elf Akkorde stehen am Anfang des Stückes und werden dann jeweils für die Dauer eines fünf Minuten langen Abschnittes ausgehalten, so daß man fast von einem harmonischen „cantus firmus” sprechen könnte. Wie bei frühmittelalterlichen Organa ist der Zusammenhang zwischen den einzelnen Noten (oder Akkorden) des Cantus firmus zwar kaum noch wahrnehmbar, aber sein Vorhandensein die unerläßliche Voraussetzung für den „Prozeß”.

Mit zwei Klarinetten und zwei Streichern, einer reichhaltigen Perkussion und vier Klavieren, vier Sängerinnen und einem Vibraphon als Einsatzgeber bedeutet die „Musicfor 18 Musicians” in jeder Hinsicht eine Innovation. Vielleicht ist sie auch ein Schritt zurück, eine Annäherung an westliche Tradition, ein Anknüpfen km Prozesse, die mehr mit „überlieferter Komposition” zu tun haben als die früheren Werke, aber für Reich selbst bedeutet dieses Stück eine Erweiterung und einen Fortschritt. „Musicfor 18 Musicians” war entschieden eine Überraschung. Die amerikanische Experimentalmusik ist damit in ein neues Stadium eingetreten.

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